20. April 1917
Verehrter, Lieber,
verzeihen Sie, wenn ich mir erlaube, Ihnen
in dem Sinne zu widersprechen, dass ich es nicht
für korrekt hielte, an Monsieur Held selbst zu
antworten,
Den Brief Ferdinand Helds, Direktor des Genfer Konservatoriums, mit der Anfrage nach Busonis Bereitschaft zum Unterricht hat Busoni offenbar an Huber zurückgeschickt.
da er eben vorsichtigerweise
sich an Sie wandte, bevor er von mir eine
etwaige Ablehnung riskierte. Darum müssen
wir ihm eine solche ersparen, wie seine
Empfindung – übrigens richtig – ihm diktiert.
Also bitte ich Sie, sich die Mühe
zu nehmen, den an Sie gerichteten Brief zu
beantworten, von dem ich – um Monsieur Held
zu schonen – doch eigentlich nicht zu wissen
brauche! — Sie selbst haben niemals einen
Taktfehler begangen, und obwohl ich jedes
Wort von Ihnen sonst mir gerne merke,
hatte ich dieses eine Argument vergessen.
Gegen die Genfer Idee spricht
vor allem mein Unabhängigkeitsgefühl;
sodann meine Sättigkeit am
Anhören mühsamen Klavierspieles und Abneigung
, täglich den Weg zu wiederholen,
den ich hinter mir ließ.
Ein drittes Argument ist, dass ich
eine solche „Mission“, falls ich mich zu
dieser berechtigt oder verpflichtet betrachtete, zunächst in meiner Heimat
erfüllen müsste; wo man mir öfters
– zuletzt in Rom
– sie mir nahebrachte.
Ein vierter Grund – und jetzt werden
Sie lachen! – ist meine gänzliche Vertrauenslosigkeit in Sachen wirklicher
Kunst gegen junge Damen; – und die
bilden den Kern der Konservatorien.
Ein ganz gewichtiger Grund ist,
dass ich jetzt mit jedem Tage meines
Lebens rechne, für das, das mir noch
zu tun übrig bleibt, und dass ich
es gewissenslos gegen mich fände,
meine Zeit mit Dingen auszufüllen,
die schon getan sind,
wo mir die Pflicht geboten und die
Möglichkeit gegeben ist, manches
zu verrichten,
das noch nicht getan ist. —
Nebenbei fiele weder an Geld noch
an Ruhm noch an anregenden Aufgaben
genug ab, um für eine Gefangenschaft
zu entschädigen, wie sie die mir
bekannten Verhältnisse (infolge von
Berichten der Frau Prof. Stavenhagen und
da Mottas)
Sowohl Agnes Stavenhagens Ehemann Bernhard als auch dessen Nachfolger José Vianna da Motta haben am Genfer Konservatorium Meisterklassen im Fach Klavier gegeben. (Jung 2006, Sp. 1352, Cascudo 2004, Sp. 544).
dort um einen schließen.
Nur Ihnen persönlich habe
ich so ausführlich begründet. —
Darf ich noch hinzufügen, dass mich
– nicht nur in Friedenszeiten – große
Anträge in aller musikalischen Welt
auf Monate lang unterwegs halten,
so dass ich la disperazione
Ital.: die Verzweiflung.
jedes
wohlgeordneten Institutes durch
meine Abwesenheiten werde
oder ernstliche Konflikte beschwöre.
So bin ich beispielsweise für Oktober und November
dieses Jahres als Gast-Dirigent der ersten
englischen Konzertgesellschaften eingeladen.
Monsieur Held sagen Sie aber einfach,
Sie wüssten, dass ich keine feste
Anstellung anzunehmen beabsichtigte.
Ich danke Ihnen herzlich für
die Mitteilung und hoffe, bald
Gelegenheit zu haben, Sie wieder zu
sehen. — Ich wünsche und nehme
an, dass die kleine Ferienzeit
Kuraufenthalt in Locarno (vgl. Refardt 1939, S. 27).
Ihnen
gut angeschlagen hat! Anhaltende
Nachwirkung der Wohltat blühe
Ihnen weiter.
Ihr verehrungsoll
und getreu ergebener
F. Busoni
P. S. Meines Bedünkens wäre
Emile Blanchet der richtige Mann
für Genf. Er kennt den Mechanismus
des Klavieres wie wenige, gehört zum Lande, ist fortschrittlich und
dabei systematisch.
Position des Postscriptums: am linken Seitenrand und um 90° nach rechts gedreht