|
(3)
31 Mai 1919
Lieber Verehrter, in der schüchternen Hoffnung,
dass Sie meine Briefe ein
wenig erfreuen, schreibe ich Ihnen wieder,
u. verlange keine obligate Antwort; obwohl
eine solche – wenn sie eintrifft – mich beglückt.
Man führte in Basel die
ungekürzte Matthäus Passion auf:, ein
Werk, das dem Inhalte nach stellenweise
ein Denkmal, nach seiner Form aber
ein Fries ist; ein gestreckter Fries zumal,
nicht einmal ein Ring, fast wie eine
Tapeten Muster nach dem Schema:
<Chor – Recitativ – Choral – Arie>
An diesem Fries ist die Arie daser
lähmende, profanierende Moment,
die jeweilige Betrachtung des bezopften
Bigotten; und schon die Disharmonie
zwischen diesen Texten u. jenen des
Evangeliums ist derart verwundend,
dass ich mich wundere, dasswie noch
nie Jemand hierdagegen protestierte.
Die Arien sind aber wiederum
unter sich schematisch. Beobachten wir
|
31. Mai 1919
Lieber Verehrter,
in der schüchternen Hoffnung,
dass Sie meine Briefe ein
wenig erfreuen, schreibe ich Ihnen wieder
und verlange keine obligate Antwort; obwohl
eine solche – wenn sie eintrifft – mich beglückt.
Man führte in Basel die
ungekürzte Matthäuspassion auf: ein
Werk, das dem Inhalte nach stellenweise
ein Denkmal, nach seiner Form aber
ein Fries ist; ein gestreckter Fries zumal,
nicht einmal ein Ring, fast wie ein
Tapetenmuster nach dem Schema:
<Chor – Recitativ – Choral – Arie>
An diesem Fries ist die Arie der
lähmende, profanierende Moment,
die jeweilige Betrachtung des bezopften
Bigotten; und schon die Disharmonie
zwischen diesen Texten und jenen des
Evangeliums ist derart verwundend,
dass ich mich wundere, wie noch
nie jemand dagegen protestierte.
Die Arien sind aber wiederum
unter sich schematisch. Beobachten wir
den Vorgang. Eine Introduktion
eröffnet die Arie, meist mit einem
zwecklos gewählten Soloinstrument;
von dieser Einleitung sind die vier
ersten Takte (oft schön-) inspiriert,
der Nachsatz spinnt aber Quintenzirkel-Sequenzen weiter. – Hiermit ist aber
der Inhalt der ganzen, erst beginnenden
Arie bereits erschöpft. Jetzt setzt der
Gesang ein, meist im Charakter
einer Mittelstimme von einer Klavierfuge:
Die Wendungen sind erstaunlich mannigfaltig, jedoch im Grunde maßlos gestaltet
und im Sinne einer Durchführung ad infinitum.
Schlagend wirken müßte – nach
meinem Empfinden – eine vollständige
Aufführung der Passion mit Auslassung
der Arien; ein dramatisches Epos von
zwingendem Ausdruck und theatralischem
Pulsschlag. Hiebei mrüßte der Chor,
der in die Handlung greift, getrennt
sein von dem, der die Choräle betet;
auch für das Auge: das Bibelwort
und die Gemeinde. Wie stehen Sie dazu?
Ihre rückhaltlose Anerkennung meiner
Klavierübung-Sätzchen hat mich verwirrt,
jedoch dankbar gestimmt gegen so viele
und intense Teilnahme. Nun gehe ich freudig
weiter.
Meine Teilnahme für Ihren Zustand
wurde durch Ihren Bericht über die
Vitznauer Leiden schmerzlich geweckt.
Ich nehme an, dass Ihre Gesundheit
wieder gestärkt ist: Mir will es scheinen,
dass Sie physisch – und auch moralisch –
nach dem Süden verlangen! Wären
nicht die Italiener, oder wären Sie
anders – ich lüde Sie ein mit
mir nach Rom zu übersiedeln, um
dort noch manches Gute gemeinschaftlich
zu geben und viel Schönes zu empfangen.
Aber jetzt, wo der Mensch nicht denkt
und Gott nicht lenkt – (und wenn
dies alles „gedacht“ und „gelenkt“ heißen sollte,
um so trauriger!) –, bleibt einem
nichts, als schneckenhaft sich in
das eigene bergende Gehäuse zu krümmen.
Ihr verehrungsvoll und herzlich
grüßender, treu ergebener
F. Busoni
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">(3)</note>
<opener>
<dateline rend="align(right)"><date when-iso="1919-05-31">31<reg>.</reg> Mai 1919</date></dateline>
<salute/></opener>
<p><seg type="opener" subtype="salute">Lieber Verehrter,</seg> in der schüchternen Hoffnung,
<lb/><seg rend="align(right)">dass Sie meine Briefe ein</seg>
<lb/>wenig erfreuen, schreibe ich Ihnen wieder<orig>,</orig>
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> verlange keine obligate Antwort; obwohl
<lb/>eine solche – wenn sie eintrifft – mich beglückt.</p>
<p rend="indent-2-first">Man führte in <placeName key="E0500097">Basel</placeName> die
<lb/>ungekürzte <title>Matthäus<choice><orig> P</orig><reg>p</reg></choice>assion</title> auf<subst><add place="inline">:</add><del rend="strikethrough">,</del></subst> ein
<lb/>Werk, das dem Inhalte nach stellenweise
<lb/>ein Denkmal, nach seiner Form aber
<lb/>ein Fries ist; ein gestreckter Fries zumal,
<lb/>nicht einmal ein Ring, fast wie ein<del rend="strikethrough">e</del>
<lb/>Tapeten<choice><orig> M</orig><reg>m</reg></choice>uster nach dem Schema:
<lb/><seg rend="indent"><Chor – Recitativ – Choral – Arie></seg>
<lb/>An diesem Fries ist die Arie d<subst><del rend="overwritten">as</del><add place="across">er</add></subst>
<lb/>lähmende, profanierende Moment,
<lb/>die jeweilige Betrachtung des bezopften
<lb/>Bigotten; und schon die Disharmonie
<lb/>zwischen diesen Texten <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> jenen des
<lb/>Evangeliums ist derart verwundend,
<lb/>dass ich mich wundere, <subst><del rend="strikethrough">dass</del><add place="above">wie</add></subst> noch
<lb/>nie <choice><orig>J</orig><reg>j</reg></choice>emand <subst><del rend="strikethrough">hier</del><add place="above">dagegen</add></subst> protestierte.</p>
<p type="pre-split">Die Arien sind aber wiederum
<lb/>unter sich schematisch. Beobachten wir
</p></div>
|
|
(4)
den Vorgang. Eine Introduktion
eröffnet die Arie, meist mit einem
zwecklos gewählten Solo instrument;
von dieser IEinleitung sind die vier
ersten Takte (oft schön=) inspiriert,
der Nachsatz spinnt aber Quintenzirkel-
Sequenzen weiter. – Hiermit ist aber
der Inhalt der ganzen, erst beginnenden,
Arie bereits erschöpft. Jetzt setzt dier
Gesangstimme ein, meist im Charakter
einer Mittelstimme von einer Clavierfuge:
die Wendungen sind erstaunlich mannig- faltig, jedoch im Grunde maaslos gestaltet
u. im Sinne einer Durchführung ad infinitum.
Schlagend wirken müsste – nach
meinem Empfinden – eine vollständige
Aufführung der Passion mit Auslassung
der Arien; ein dramatisches Epos von
zwingendem Ausdruck und theatralischem
Pulsschlag. Hiebei mrüsste der Chor
der in die Handlung greift getrennt
sein von dem der die Choräle betet;
auch für das Auge: das Bibelwort
u. die Gemeinde. Wie stehen Sie dazu?
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split">
<note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">(4)</note>
den Vorgang. Eine Introduktion
<lb/>eröffnet die Arie, meist mit einem
<lb/>zwecklos gewählten Solo<orig> </orig>instrument;
<lb/>von dieser <subst><del rend="overwritten">I</del><add place="across">E</add></subst>inleitung sind die vier
<lb/>ersten Takte (oft schön<pc>=</pc>) inspiriert,
<lb/>der Nachsatz spinnt aber Quintenzirkel-
<lb break="no"/>Sequenzen weiter. – Hiermit ist aber
<lb/>der Inhalt der ganzen, erst beginnenden<orig>,</orig>
<lb/>Arie bereits erschöpft. Jetzt setzt d<del rend="strikethrough">i</del>e<add place="inline">r</add>
<lb/>Gesang<del rend="strikethrough">stimme</del> ein, meist im Charakter
<lb/>einer Mittelstimme von einer <choice><orig>C</orig><reg>K</reg></choice>lavierfuge:
<lb/><choice><orig>d</orig><reg>D</reg></choice>ie Wendungen sind erstaunlich mannig
<lb break="no"/>faltig, jedoch im Grunde ma<choice><orig>as</orig><reg>ß</reg></choice>los gestaltet
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> im Sinne einer <hi rend="underline">Durchführung <foreign xml:lang="la">ad infinitum</foreign></hi>.</p>
<p rend="indent-first">Schlagend wirken mü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>te – nach
<lb/>meinem Empfinden – eine vollständige
<lb/>Aufführung der Passion mit <hi rend="underline">Auslassung
<lb/>der Arien</hi>; ein dramatisches Epos von
<lb/>zwingendem Ausdruck und theatralischem
<lb/>Pulsschlag. Hiebei mrü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>te der Chor<reg>,</reg>
<lb/>der in die Handlung greift<reg>,</reg> getrennt
<lb/>sein von dem<reg>,</reg> der die Choräle betet;
<lb/>auch für das Auge: das Bibelwort
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> die Gemeinde. Wie stehen Sie dazu?</p>
</div>
|
|
(5)
Ihre rückhaltlose Anerkennung meiner
ClavierÜbungsätzchen hat mich verwirrt,
jedoch dankbar gestimmt gegen so viele
u. intense Theilnahme. Nun gehe ich freudig
weiter. –
Meine Theilnahme für Ihren Zustand
wurde durch Ihren Bericht über die
Vitznauer Leiden schmerzlich geweckt.
Ich nehme an, dass Ihre Gesundheit
wieder gestärkt ist: mir will es scheinen,
dass Sie physisch – u. auch moralisch –
nach dem Süden verlangen! Wären
nicht die Italiener, oder wären Sie
anders, – ich lüde Sie ein mit
mir nach Rom zu übersiedeln, um
dort noch Manches SieGute gemeinschaftlich
zu geben u. viel Schönes zu empfangen.
Aber jetzt, wo der Mensch nicht denkt
u. Gott nicht lenkt – (und wenn
dies Alles „gedacht“ u. “gelenkt” heissen sollte,
um so trauriger!) – bleibt Einem
Nichts, als schneckenhaft sich in
das eigene bergende Gehäuse zu krümmen.
Ihr verehrungsvoll u. herzlich
grüssender, treu ergebener
F. Busoni
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">(5)</note>
<p rend="indent-first">Ihre rückhaltlose Anerkennung meiner
<lb/><title><choice><orig>C</orig><reg>K</reg></choice>lavier<choice><orig>Ü</orig><reg>ü</reg></choice>bung</title><choice><orig>s</orig><reg>-S</reg></choice>ätzchen hat mich verwirrt,
<lb/>jedoch dankbar gestimmt gegen so viele
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> intense T<orig>h</orig>eilnahme. Nun gehe ich freudig
<lb/>weiter.<orig> –</orig></p>
<p rend="indent-first"><hi rend="underline">Meine</hi> T<orig>h</orig>eilnahme für Ihren Zustand
<lb/>wurde durch Ihren Bericht über die
<lb/><placeName key="E0500200">Vitznauer</placeName> Leiden schmerzlich geweckt.
<lb/>Ich nehme an, dass Ihre Gesundheit
<lb/>wieder gestärkt ist: <choice><orig>m</orig><reg>M</reg></choice>ir will es scheinen,
<lb/>dass Sie physisch – <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> auch moralisch –
<lb/>nach dem <hi rend="underline">Süden</hi> verlangen! Wären
<lb/>nicht die <placeName key="E0500013">Italiener</placeName>, oder wären Sie
<lb/>anders<orig>,</orig> – ich lüde Sie ein mit
<lb/>mir nach <placeName key="E0500020">Rom</placeName> zu übersiedeln, um
<lb/>dort noch <choice><orig>M</orig><reg>m</reg></choice>anches <subst><del rend="overwritten">Sie</del><add place="across">Gu</add></subst>te gemeinschaftlich
<lb/>zu geben <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> viel Schönes zu empfangen.
<lb/>Aber jetzt, wo der Mensch nicht denkt
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> Gott nicht lenkt – (und wenn
<lb/>dies <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>lles <soCalled rend="dq-du">gedacht</soCalled> <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> <soCalled rend="dq-uu">gelenkt</soCalled> hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en sollte,
<lb/>um so trauriger!) –<reg>,</reg> bleibt <choice><orig>E</orig><reg>e</reg></choice>inem
<lb/><choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>ichts, als schneckenhaft sich in
<lb/>das eigene bergende Gehäuse zu krümmen.</p>
<closer>
<salute rend="indent">Ihr verehrungsvoll <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> herzlich
<lb/>grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>ender, treu ergebener</salute>
<signed rend="align(right)"><persName key="E0300017">F. Busoni</persName></signed>
</closer>
</div>
|
|
[Rückseite von Textseite 1, vacat]
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<note type="objdesc" resp="#E0300314">[Rückseite von Textseite 1, vacat]</note>
</div>
|
|
[Rückseite von Textseite 2, vacat]
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<note type="objdesc" resp="#E0300314">[Rückseite von Textseite 2, vacat]</note>
</div>
|
|
III
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<note type="numbering" resp="#unknown_hand" rend="large">III</note>
</div>
|