Ferruccio Busoni an Hans Huber arrow_backarrow_forward

Zürich · 31. Mai 1919

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31 Mai 1919

Lieber Verehrter, in der schüchternen Hoffnung,
dass Sie meine Briefe ein
wenig erfreuen, schreibe ich Ihnen wieder,
u. verlange keine obligate Antwort; obwohl
eine solche – wenn sie eintrifft – mich beglückt.

Man führte in Basel die
ungekürzte Matthäus Passion auf:, ein
Werk, das dem Inhalte nach stellenweise
ein Denkmal, nach seiner Form aber
ein Fries ist; ein gestreckter Fries zumal,
nicht einmal ein Ring, fast wie eine
Tapeten Muster nach dem Schema:
<Chor – Recitativ – Choral – Arie>
An diesem Fries ist die Arie daser
lähmende, profanierende Moment,
die jeweilige Betrachtung des bezopften
Bigotten; und schon die Disharmonie
zwischen diesen Texten u. jenen des
Evangeliums ist derart verwundend,
dass ich mich wundere, dasswie noch
nie Jemand hierdagegen protestierte.

Die Arien sind aber wiederum
unter sich schematisch. Beobachten wir

31. Mai 1919

Lieber Verehrter,

in der schüchternen Hoffnung, dass Sie meine Briefe ein wenig erfreuen, schreibe ich Ihnen wieder und verlange keine obligate Antwort; obwohl eine solche – wenn sie eintrifft – mich beglückt.

Man führte in Basel die ungekürzte Matthäuspassion auf: ein Werk, das dem Inhalte nach stellenweise ein Denkmal, nach seiner Form aber ein Fries ist; ein gestreckter Fries zumal, nicht einmal ein Ring, fast wie ein Tapetenmuster nach dem Schema: <Chor – Recitativ – Choral – Arie> An diesem Fries ist die Arie der lähmende, profanierende Moment, die jeweilige Betrachtung des bezopften Bigotten; und schon die Disharmonie zwischen diesen Texten und jenen des Evangeliums ist derart verwundend, dass ich mich wundere, wie noch nie jemand dagegen protestierte.

Die Arien sind aber wiederum unter sich schematisch. Beobachten wir den Vorgang. Eine Introduktion eröffnet die Arie, meist mit einem zwecklos gewählten Soloinstrument; von dieser Einleitung sind die vier ersten Takte (oft schön-) inspiriert, der Nachsatz spinnt aber Quintenzirkel-Sequenzen weiter. – Hiermit ist aber der Inhalt der ganzen, erst beginnenden Arie bereits erschöpft. Jetzt setzt der Gesang ein, meist im Charakter einer Mittelstimme von einer Klavierfuge: Die Wendungen sind erstaunlich mannigfaltig, jedoch im Grunde maßlos gestaltet und im Sinne einer Durchführung ad infinitum.

Schlagend wirken müßte – nach meinem Empfinden – eine vollständige Aufführung der Passion mit Auslassung der Arien; ein dramatisches Epos von zwingendem Ausdruck und theatralischem Pulsschlag. Hiebei mrüßte der Chor, der in die Handlung greift, getrennt sein von dem, der die Choräle betet; auch für das Auge: das Bibelwort und die Gemeinde. Wie stehen Sie dazu?

Ihre rückhaltlose Anerkennung meiner Klavierübung-Sätzchen hat mich verwirrt, jedoch dankbar gestimmt gegen so viele und intense Teilnahme. Nun gehe ich freudig weiter.

Meine Teilnahme für Ihren Zustand wurde durch Ihren Bericht über die Vitznauer Leiden schmerzlich geweckt. Ich nehme an, dass Ihre Gesundheit wieder gestärkt ist: Mir will es scheinen, dass Sie physisch – und auch moralisch – nach dem Süden verlangen! Wären nicht die Italiener, oder wären Sie anders – ich lüde Sie ein mit mir nach Rom zu übersiedeln, um dort noch manches Gute gemeinschaftlich zu geben und viel Schönes zu empfangen. Aber jetzt, wo der Mensch nicht denkt und Gott nicht lenkt – (und wenn dies alles „gedacht“ und „gelenkt“ heißen sollte, um so trauriger!) –, bleibt einem nichts, als schneckenhaft sich in das eigene bergende Gehäuse zu krümmen.

Ihr verehrungsvoll und herzlich grüßender, treu ergebener

F. Busoni

                                                                
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der Nachsatz spinnt aber Quintenzirkel-
Sequenzen weiter. – Hiermit ist aber
der Inhalt der ganzen, erst beginnenden,
Arie bereits erschöpft. Jetzt setzt dier
Gesangstimme ein, meist im Charakter
einer Mittelstimme von einer Clavierfuge:
die Wendungen sind erstaunlich mannig-
faltig, jedoch im Grunde maaslos gestaltet
u. im Sinne einer Durchführung ad infinitum.

Schlagend wirken müsste – nach
meinem Empfinden – eine vollständige
Aufführung der Passion mit Auslassung
der Arien
; ein dramatisches Epos von
zwingendem Ausdruck und theatralischem
Pulsschlag. Hiebei mrüsste der Chor
der in die Handlung greift getrennt
sein von dem der die Choräle betet;
auch für das Auge: das Bibelwort
u. die Gemeinde. Wie stehen Sie dazu?

                                                                
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Ihre rückhaltlose Anerkennung meiner
ClavierÜbungsätzchen hat mich verwirrt,
jedoch dankbar gestimmt gegen so viele
u. intense Theilnahme. Nun gehe ich freudig
weiter. –

Meine Theilnahme für Ihren Zustand
wurde durch Ihren Bericht über die
Vitznauer Leiden schmerzlich geweckt.
Ich nehme an, dass Ihre Gesundheit
wieder gestärkt ist: mir will es scheinen,
dass Sie physisch – u. auch moralisch –
nach dem Süden verlangen! Wären
nicht die Italiener, oder wären Sie
anders, – ich lüde Sie ein mit
mir nach Rom zu übersiedeln, um
dort noch Manches SieGute gemeinschaftlich
zu geben u. viel Schönes zu empfangen.
Aber jetzt, wo der Mensch nicht denkt
u. Gott nicht lenkt – (und wenn
dies Alles „gedacht“ u. “gelenkt” heissen sollte,
um so trauriger!) – bleibt Einem
Nichts, als schneckenhaft sich in
das eigene bergende Gehäuse zu krümmen.

Ihr verehrungsvoll u. herzlich
grüssender, treu ergebener

F. Busoni

                                                                
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Dokument

warningStatus: in Bearbeitung XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Schweiz | Basel | Universitätsbibliothek | NL 30 : 22:A-H:16
Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der die Foliierung mit Bleistift vorgenommen hat.
  • Unbekannte Hand, die mit Blaustift eine Nummerierung auf der Rückseite von Blatt 2 notiert hat.

Incipit
in der schüchternen Hoffnung, dass Sie meine Briefe ein wenig erfreuen

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
unter Mitarbeit von
Stand
24. August 2017: in Bearbeitung (in der Erfassungs-/Codierungsphase)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Refardt 1939, S. 43 f. Beaumont 1987, S. 286 f.