Hans Huber an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Vitznau · 28. Mai 1919

Faksimile
Diplomatische Umschrift
Lesefassung
XML
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2311Mus.ep. H. Huber 85 (Busoni-Nachl. B II)
[1]
Vitznau 28/5 1919
27

Mein lieber Freund!

Wie bedaure ich doch, daß
ich nicht mehr Chef des
Klavierspiels in Basel bin,
um meine ganze Begeisterung
für Ihre geradezu genialen
Studien der jungen Klavier⸗
welt hergeben zu kön̅en!
Da läuft Nichts, wie sonst
bei solchen Handwerksgeschichten
oder bei den unlenksamen
Pädagogen auf einer zweischienigen
Bahn, auf der man Niemandem
ausweichen kan̅. Auf jeder
Seite strahlen mir neue
pianistische Ideen entgegen;
es sind gleichsam zukünftige

Vitznau, 28.5.1919

Mein lieber Freund!

Wie bedaure ich doch, dass ich nicht mehr Chef des Klavierspiels in Basel bin, um meine ganze Begeisterung für Ihre geradezu genialen Studien der jungen Klavierwelt hergeben zu können! Da läuft nichts wie sonst bei solchen Handwerksgeschichten oder bei den unlenksamen Pädagogen auf einer zweischienigen Bahn, auf der man niemandem ausweichen kann. Auf jeder Seite strahlen mir neue pianistische Ideen entgegen; es sind gleichsam zukünftige Wahrheiten, die sich die begabten Lehrer, wie ein neues Testament, aneignen müssen! Zum richtigen Studium dieser wundervollen Ausgaben soll das letzte Ziel sein, die Antipathien und Sympathien für die Werke herauszuhören, singen und weinen lernen und sogar eine physisch-schwache Hand zum Nachahmen aller instrumentalen Schönheiten zu bringen! Als ich heute Morgen vor diesen Seiten zuerst buchstabierte, dann zusammensetzte und endlich siegreich das Gewollte lesen konnte, so hatte ich für mich ein kleines aber schönes Erlebnis: ein idealer Abklang meiner eigenen pädagogischen Vergangenheit (in kleineren Verhältnisen!) und eine künstlerische Vision in kommende Zeiten! Für diesen Genuss kann ich Ihnen nicht genug danken und bin gar nicht überrascht, dass Sie selbst mit Hingebung und mit Lust an die Fortsetzung gehen. Mögen uns Tausende von besseren Kollegen zur Seite stehen!

Mein Vitznauer Aufenthalt ließ sich nicht gut an. Die Die lästige Diabetis hat mich bis zu 2½ Prozente gepackt, und in diesem Zustande ermüdet mich die kleinste Aufgabe. Aus diesem Grunde erhielten Sie auch noch keine Antwort auf den Locarneser Brief. Derselbe liegt aber wie ein – im besseren Sinne gedachter – Gesslerhut auf meinem Pulte und liegt neben dem letzten Schreiben von unserem armen Wolfrum! Der eine atmet frisches und gesundes Leben, der andere mahnt mich an das Dies irae!

Sobald es aber besser wird, will ich fleißger und ausführlicher schreiben.

Unterdessen meine Bewunderung und meine Freundschaft

Ihr grüßender

Hans Huber

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="shelfmark" place="margin-left" resp="#archive"> <subst><add>Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2311</add><del rend="strikethrough">Mus.ep. H. Huber 85 (Busoni-Nachl. <handShift new="#archive_red"/>B II<handShift new="#archive"/>)</del></subst> </note> <note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">[1]</note> <opener> <dateline rend="align(right)"><placeName key="E0500200">Vitznau</placeName><reg>,</reg> <date when-iso="1919-05-28">28<choice><orig>/</orig><reg>.</reg></choice>5<choice><orig> </orig><reg>.</reg></choice>1919</date></dateline> <note type="numbering" place="margin-right" resp="#archive_red" rend="large">27</note> <salute rend="indent">Mein lieber Freund!</salute> </opener> <p type="pre-split" rend="indent-first">Wie bedaure ich doch, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> <lb/>ich nicht mehr Chef des <lb/>Klavierspiels in <placeName key="E0500097" rend="latin">Basel</placeName> bin, <lb/>um meine ganze Begeisterung <lb/>für <rs>Ihre geradezu genialen <lb/>Studien</rs> der jungen Klavier <lb break="no"/>welt hergeben zu kö<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>en! <lb/>Da läuft <choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>ichts<orig>,</orig> wie sonst <lb/>bei solchen Handwerksgeschichten <lb/>oder bei den unlenksamen <lb/>Pädagogen auf einer zweischienigen <lb/>Bahn, auf der man <choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>iemandem <lb/>ausweichen ka<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>. Auf jeder <lb/>Seite strahlen mir neue <lb/>pianistische Ideen entgegen; <lb/>es sind gleichsam <hi rend="underline">zukünftige</hi> </p></div>
2Faksimile
2Diplomatische Umschrift
2XML

Wahrheiten, die sich die begabten
Lehrer, wie ein neues Testament,
aneignen müßen! Zum richtigen
Studium dieser wundervollen
Ausgaben soll das letzte Ziel sein,
die Antipathien & Sympathien
für die Werke heraushzuhören,
singen & weinen lernen &
sogar eine physisch-schwache Hand
zum Nachahmen aller instrumentalen
Schönheiten zu bringen! Als ich
heute Morgen hintervor diesen
Seiten zuerst buchstabirte, dan̅
zusam̅ensetzte & endlich siegreich
das Gewollte lesen kon̅te, so
hatte ich für mich ein kleines
aber schönes Erlebniß: ein
idealer Abklang meiner eigenen
pädagogischen Vergangenheit
(in kleineren Verhältnißen!) & eine
künstlerische Vision in kom̅ende

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split"> Wahrheiten, die sich die begabten <lb/>Lehrer, wie ein neues Testament, <lb/>aneignen mü<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>en! Zum richtigen <lb/>Studium <rs>dieser wundervollen <lb/>Ausgaben</rs> soll das letzte Ziel sein, <lb/>die Antipathien <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> Sympathien <lb/>für die Werke heraus<subst><del rend="overwritten">h</del><add place="across">z</add></subst>uhören, <lb/>singen <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> weinen lernen <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> <lb/>sogar eine physisch-schwache Hand <lb/>zum Nachahmen aller instrumentalen <lb/>Schönheiten zu bringen! Als ich <lb/>heute Morgen <subst><del rend="strikethrough">hinter</del><add place="above">vor</add></subst> diesen <lb/>Seiten zuerst buchstabi<reg>e</reg>rte, da<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice> <lb/>zusa<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>ensetzte <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> endlich siegreich <lb/>das Gewollte lesen ko<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>te, so <lb/>hatte ich für mich ein kleines <lb/>aber schönes Erlebni<choice><orig>ß</orig><reg>s</reg></choice>: ein <lb/>idealer Abklang meiner eigenen <lb/>pädagogischen Vergangenheit <lb/>(in kleineren Verhältni<choice><orig>ß</orig><reg>s</reg></choice>en!) <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> eine <lb/>künstlerische Vision in ko<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>ende </p></div>
3Faksimile
3Diplomatische Umschrift
3XML

[2] Zeiten! Für diesen Genuß kan̅
ich Ihnen nicht genug danken &
bin gar nicht überrascht, daß Sie
selbst mit Hingebung & mit Lust
an die Fortsetzung gehen. Mögen
uns Tausende von beßeren Kollegen
zur Seite stehen! –

Mein Vitznaueraufenthalt
ließ sich nicht gut an. Die
Die lästige Diabetis hat mich bis
zu 2½ Prozente gepackt & in
diesem Zustande ermüdet mich
die kleinste Aufgabe. Aus diesem
Grunde erhielten Sie auch noch
keine Antwort auf den Locarneser
brief. Derselbe liegt aber wie
ein – im beßeren Sin̅e gedachter
Gesslerhut auf meinem Pulte
& liegt neben dem letzten
Schreiben von unserem armen
Wolfrum! Der eine athmet
frisches & gesundes Leben, der
andere mahnt mich an das

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split"> <note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">[2]</note> Zeiten! Für diesen Genu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> ka<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice> <lb/>ich Ihnen nicht genug danken <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> <lb/>bin gar nicht überrascht, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Sie <lb/>selbst mit Hingebung <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> mit Lust <lb/>an die Fortsetzung gehen. Mögen <lb/>uns Tausende von be<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>eren Kollegen <lb/>zur Seite stehen!<orig> –</orig></p> <p type="pre-split" rend="indent-first">Mein <placeName key="E0500200">Vitznauer</placeName><choice><orig>a</orig><reg> A</reg></choice>ufenthalt <lb/>ließ sich nicht gut an. Die <lb/>Die lästige Diabetis hat mich bis <lb/>zu 2½ Prozente gepackt<reg>,</reg> <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> in <lb/>diesem Zustande ermüdet mich <lb/>die kleinste Aufgabe. Aus diesem <lb/>Grunde erhielten Sie auch noch <lb/>keine Antwort auf den <placeName key="E0500183" rend="latin">Locarneser</placeName><choice><orig><lb break="no"/>b</orig><reg><lb/>B</reg></choice>rief. Derselbe liegt aber wie <lb/>ein – im be<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>eren Si<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>e gedachter<reg> –</reg> <lb/><seg rend="latin">Gessler</seg>hut auf meinem Pulte <lb/><choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> liegt neben dem letzten <lb/>Schreiben von unserem armen <lb/><persName key="E0300181" rend="latin">Wolfrum</persName>! Der eine at<orig>h</orig>met <lb/>frisches <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> gesundes Leben, der <lb/>andere mahnt mich an das </p></div>
4Faksimile
4Diplomatische Umschrift
4XML

Dies irae!

Sobald es aber beßer wird,
will ich fleißger & ausführlicher
schreiben.

Unterdeßen meine Bewunderung
& meine Freundschaft

Ihr grüßender

Hans Huber

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split"> <foreign xml:lang="la" rend="latin">Dies irae</foreign>!</p> <p rend="indent-first">Sobald es aber be<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>er wird, <lb/>will ich fleißger <choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> ausführlicher <lb/>schreiben.</p> <p>Unterde<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>en meine Bewunderung <lb/><choice><abbr>&amp;</abbr><expan>und</expan></choice> meine Freundschaft</p> <closer rend="align(right)"> <salute>Ihr grüßender</salute> <signed><persName key="E0300125" rend="latin">Hans Huber</persName></signed> </closer> </div>

Dokument

warningStatus: in Bearbeitung XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2311 | olim: Mus.ep. H. Huber 85 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Hans Huber, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift.
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und die Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen und einen Nummerierung eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Incipit
Wie bedaure ich doch

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
unter Mitarbeit von
Stand
2. November 2017: in Bearbeitung (in der Erfassungs-/Codierungsphase)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition