Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Zürich · 28. März 1921

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N.Mus.Nachl. 30, 123

25.3.21

Mein lieber Meister u. Freund!

Ziemlich kleinlaut – weil im Bewusstsein
meines ungebührlich langen Schweigens – greife
ich heute zur Feder, um Ihnen endlich für
Ihren schönen, lieben Brief aus London herzlich
zu danken. Denken Sie bitte nicht, dass ich aus
Mangel an Stoff oder Lust so lange nichts von
mir hören liess. – Seit Januar haben mich
Ueberlegungen darüber, ob wir jetzt der Schweiz
den Rücken kehren wollten, fortwährend be-
schäftigt, und ich wollte zu einem Entschluss
kommen, bevor ich Ihnen davon berichtete.
Nun ist die Sache entschieden; wir haben
uns bei der zürcherischen Obrigkeit bereits
abgemeldet, unsere Wohnung gekündigt und
gedenken nächste Woche zu reisen.

28 März. – d. h. diese Woche! Mein am 25. März 1921Kar-
freitag begonnener Brief musste zugunsten
allerhand widerwärtiger Umzugsgeschäfte
unterbrochen werden. Die Wiederholung dessen
befürchtend, fasse ich mich lieber kurz.

25.3.21

Mein lieber Meister und Freund!

Ziemlich kleinlaut – weil im Bewusstsein meines ungebührlich langen Schweigens – greife ich heute zur Feder, um Ihnen endlich für Ihren schönen, lieben Brief aus London herzlich zu danken. Denken Sie bitte nicht, dass ich aus Mangel an Stoff oder Lust so lange nichts von mir hören ließ. – Seit Januar haben mich Überlegungen darüber, ob wir jetzt der Schweiz den Rücken kehren wollten, fortwährend beschäftigt, und ich wollte zu einem Entschluss kommen, bevor ich Ihnen davon berichtete. Nun ist die Sache entschieden; wir haben uns bei der zürcherischen Obrigkeit bereits abgemeldet, unsere Wohnung gekündigt und gedenken nächste Woche zu reisen.

28. März. – D. h. diese Woche! Mein am 25. März 1921Karfreitag begonnener Brief musste zugunsten allerhand widerwärtiger Umzugsgeschäfte unterbrochen werden. Die Wiederholung dessen befürchtend, fasse ich mich lieber kurz.

Benni war ein paar Mal bei uns, und endlich konnte ich seine geistige Bekanntschaft machen. Kann nicht genug bedauern, dass es erst jetzt – wo wir Zürich verlassen – geschah. Er gewann mich in der ersten halben Stunde, ohne dass er es versucht oder gewollt hätte. Ich hatte früher, glaube ich, irgendetwas wie ein Vorurteil gegen ihn; meine Freude war umso größer. Ein „Vorurteil“ Jarnachs mag durch Äußerungen Busonis geprägt worden sein; vgl. den Brief vom 23.10.1920, wo Busoni vom „philosophischem Un-Ehrgeiz“ Bennis spricht, ihn einen „Bequemlichkeits-Liebhaber“ nennt und Sorge über Bennis „Geschlechtsleben“ bekundet. Ich weiß nicht, welchen Eindruck er von mit hat; den meinigen kann ich in einem Worte zusammenfassen: Wir könnten Freunde werden.

Die Plauderei mit ihm war die einzige Anregung des verflossenen Vierteljahres. Sonst hatten wir hier die vollkommene Illusion des Winterschlafes. Halte das ein andrer aus! Die Festspielorganisation landet bei Wagner. (Sie sahen es voraus.) In Zürich fanden 1921 zum ersten Mal die Internationalen Festspiele und Konzerte statt. Ein Hauptprogrammpunkt war Richard Wagners Parsifal. In den geistlichen Konzerten ist Bach zugunsten Händel (dem „Ebenbürtigen“, schreibt Gysi) abgesetzt worden. Messias, Landowska, etc. Andreae bedauert mein Weggehen. Volkmar Andreae hatte Jarnach in dessen Zürcher Jahren unterstützt und ihm zu einer Stelle als Kompositionslehrer am Konservatorium für Musik verholfen. Sein Bedauern über den Wegzug von Jarnach, dem „lieben Freund und feinen Künstler“, bekundete Andreae auch gegenüber Busoni (Brief vom 5.5.1921, zit. nach Willimann 1994, S. 142).

Ich hörte, dass Sie nur für kurze Zeit in Berlin sind und bald nach Italien fahren; Im April fuhr Busoni auf Konzertreise nach Rom. Dort dirigierte er u. a. ein sehr gut besprochenes Orchesterkonzert, das ihm zu großer Beliebtheit in Italien verhalf (vgl. Busoni/Weindel 2015, S. 1136, Anm. 41). wir reisen jetzt zunächst nach Polling und denken gegen Mitte April in Berlin zu sein.

Werden wir Sie dort noch antreffen? Und wann soll die „Commedia dell’arte“ kommen? Die Berliner Erstaufführungen der Opern Turandot und Arlecchino fanden am 19. Mai 1921 als Doppelvorstellung in der Staatsoper statt. Insgesamt gab es fünf Vorstellungen im Mai und Juni 1921 (vgl. Beaumont 1987, S. 335, Anm. 4; Busoni/Weindel 2015, S. 1136, Anm. 41).

Bitte, vergelten Sie nicht Böses mit Bösem und berichten Sie uns mit zwei Worten nach Polling! So oder so hoffe ich Sie bald zu sehen und freue mich im Herzen darauf. – Empfangen Sie unsere herzlichsten Glückwünsche zu Ihrem 1. April 1921Geburtstag und verzeihen Sie das eilige Gekritzel: Ich bin doch etwas aufgeregt in diesen Tagen. Sieben Jahre – fast – saßen wir auf der eidgenössischen Glücksinsel, und jetzt wird endlich der Anker gelichtet.

Viele Grüße, auch an Frau Busoni, von Amalie und Ihrem treu ergebenen

Philipp Jarnach

                                                                
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Benni war ein paar Mal bei uns und
endlich konnte ich seine geistige Bekanntschaft
machen. Kann nicht genug bedauern, dass es
erst jetzt – wo wir Zürich verlassen – geschah.
Er gewann mich in der ersten halben Stunde,
ohne dass er es versucht oder gewollt hätte.
Ich hatte früher, glaube ich, irgend etwas wie
ein Vorurteil gegen ihn; meine Freude war
um so grösser. Ein „Vorurteil“ Jarnachs mag durch Äußerungen Busonis geprägt worden sein; vgl. den Brief vom 23.10.1920, wo Busoni vom „philosophischem Un-Ehrgeiz“ Bennis spricht, ihn einen „Bequemlichkeits-Liebhaber“ nennt und Sorge über Bennis „Geschlechtsleben“ bekundet. Ich weiss nicht, welchen Ein-
druck er von mit hat; den meinigen kann
ich in einem Worte zusammenfassen: wir
könnten Freunde werden.

Die Plauderei mit ihm war die einzige
Anregung des verflossenen Vierteljahres. Sonst
hatten wir hier die vollkommene […] mindestens 2 Zeichen: unleserlich. Illusion
des Winterschlafes. Halte das ein andrer aus!
Die Festspielorganisation landet bei Wagner. (Sie
sahen es voraus.) In Zürich fanden 1921 zum ersten Mal die Internationalen Festspiele und Konzerte statt. Ein Hauptprogrammpunkt war Richard Wagners Parsifal. In den geistlichen Konzerten
ist Bach zugunsten Händel (dem „Ebenbürtigen“,
schreibt Gysi) abgesetzt worden. Messias, Landowska,
etc. Andreae bedauert mein Weggehen. Volkmar Andreae hatte Jarnach in dessen Zürcher Jahren unterstützt und ihm zu einer Stelle als Kompositionslehrer am Konservatorium für Musik verholfen. Sein Bedauern über den Wegzug von Jarnach, dem „lieben Freund und feinen Künstler“, bekundete Andreae auch gegenüber Busoni (Brief vom 5.5.1921, zit. nach Willimann 1994, S. 142).

Ich hörte, dass Sie nur für kurze Zeit
in Berlin sind und bald nach Italien fahren; Im April fuhr Busoni auf Konzertreise nach Rom. Dort dirigierte er u. a. ein sehr gut besprochenes Orchesterkonzert, das ihm zu großer Beliebtheit in Italien verhalf (vgl. Busoni/Weindel 2015, S. 1136, Anm. 41).
wir reisen jetzt zunächst nach Polling und

                                                                
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denken gegen Mitte April in Berlin zu sein.

Werden wir Sie dort noch antreffen? Und wann
soll die „Commedia dell’ Arte“ kommen? Die Berliner Erstaufführungen der Opern Turandot und Arlecchino fanden am 19. Mai 1921 als Doppelvorstellung in der Staatsoper statt. Insgesamt gab es fünf Vorstellungen im Mai und Juni 1921 (vgl. Beaumont 1987, S. 335, Anm. 4; Busoni/Weindel 2015, S. 1136, Anm. 41).

Bitte, vergelten Sie nicht Böses mit Bösem
und berichten Sie uns mit zwei Worten nach
Polling! So oder so, hoffe ich Sie bald zu sehen
und freue mich im Herzen darauf. – Empfan-
gen Sie unsere herzlichsten Glückwünsche zu
Ihrem 1. April 1921Geburtstag und verzeihen Sie das eilige
Gekritzel: ich bin doch etwas aufgeregt in diesen
Tagen. Sieben Jahre – fast – sassen wir auf der
eidgenössischen Glücksinsel, und jetzt wird endlich
der Anker gelichtet.

Viele Grüsse, auch an Frau Busoni,
von Amalie und Ihrem treu ergebenen

Philipp Jarnach

P.S. – Adresse: Polling. (bei Weilheim) Ober-Bayern.)

                                                                
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Kulturbesitz
                                                                
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Dokument

doneStatus: zur Freigabe vorgeschlagen XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,123 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss links (ohne erkennbaren Textverlust).
Umfang
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach meldet den bevorstehenden Wegzug aus Zürich; ist nach mehreren Besuchen von Benvenuto Busoni erfreut über dessen „geistige Bekanntschaft“; berichtet vom Zürcher Musikleben („vollkommene Illusion des Winterschlafes“); erfragt Berliner Aufführungstermine von Busonis Opern; gratuliert Busoni zum Geburtstag.
Incipit
Ziemlich kleinlaut – weil im Bewusstsein

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
29. April 2022: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition