L Ph J ich vermuthe
Sie in Berlin, wo Sie heute Ihr Quintett hören sollten, dessen
Gelingen ich herzlichst herbeiwünsche!
Ich bin hier für 2 Wochen mit sechs Konzerten völlig eingespannt. Ich
sehne die Zeit vorbei: eine unvernünft- ige Sehnsucht; denn in der That nur
die gegenwärtigste Gegenwart gilt, und
die Zeit eilt von selbst weiter; ist dieses
doch das Einzige, das sie vermag zu vollbringen!
Ihren letzten Brief nahm ich mit hierher,
um ihn zu beantworten. Auch diesen Zeitungs- Bericht, den ich beilege. Herr Klein “von Giltay” soll Ihre Sonate gut vermittelt haben.
Frau Kwast Hodapp (genannt die
Hoden-Quarte) ist eine feine Natur
u. eine tüchtige Arbeiterin. – Jedenfalls
ist ein erster kleiner Schritt gethan, mit
den drei Kammermusik Vorführungen Ihrer Werke. Ich bin nicht um Sie
besorgt, falls Sie sich für Berlin ent- schlössen; doch kann ich im Voraus
Ihnen k Nichts zur Verfügung
stellen, das mich berechtigte, Sie
dazu zu ermuthigen.
ich vermute
Sie in Berlin, wo Sie heute
Ihr Quintett hören sollten, dessen
Gelingen ich herzlichst herbeiwünsche!
Ich bin hier für zwei Wochen mit sechs
Konzerten völlig eingespannt. Ich
sehne die Zeit vorbei: eine unvernünftige Sehnsucht; denn in der Tat, nur
die gegenwärtigste Gegenwart gilt, und
die Zeit eilt von selbst weiter; ist dieses
doch das Einzige, das sie vermag zu vollbringen!
Ihren letzten Brief nahm ich mit hierher,
um ihn zu beantworten. Auch diesen Zeitungsbericht, den ich beilege. Herr Klein „von Giltay“
soll Ihre Sonate gut vermittelt haben.
Frau Kwast-Hodapp (genannt die
„Hoden-Quarte“) ist eine feine Natur
und eine tüchtige Arbeiterin. – Jedenfalls
ist ein erster kleiner Schritt getan, mit
den drei Kammermusik-Vorführungen
Ihrer Werke. Ich bin nicht um Sie
besorgt, falls Sie sich für Berlin entschlössen; doch kann ich im Voraus
Ihnen nichts zur Verfügung
stellen, das mich berechtigte, Sie
dazu zu ermutigen.
Wie sehr ich mich freue, Sie
wiederzusehen, Sie bei mir zu haben,
die Opern mit Ihnen zu erleben!
Das ist natürlich. – Ich werde auch
ungezwungen und frei sein bei meiner
Rückkehr. Zum Reisen und Konzertieren
bin ich nicht geboren, und die harte
Erziehung dazu hat meine Neigung
nicht geweckt. Nun fühle ich mich
dieser Situation eher fremder gegenüber.
Zumal in Italien, in Rom, wo das Publikum mit dem Künstler Ball wirft und
sich als seinen Besitzer gebärdet. (Als
ich nicht mehr „Bis“ spielen wollte,
wurde es drohend und pfiff …!)
Heute abends gehe ich meinen zweiten
Gang durch dieses Purgatorium. Und
noch weitere vier stehen mir bevor.
Mein Freund Brecher hatte nichts
Besseres zu tun, als hierherzukommen,
um den Parsifal zu dirigieren! Er ist
jetzt in reichsten Berliner Juden-Kreisen verheiratet und sitzt
zwischen zwei Stühlen, sonst stellungslos, aber doch in geldaristokratischer
Atmosphäre gewickelt, wie ein
weiches Ei in vergoldeter Holzwolle.
Man könnte auch lachen. – Die
Menschen sehen immer mehr auf
kürzere Strecken. Sie begreifen den
Wert der „Gegenwart“, aber nicht um
eine Sekunde darüber.
Das Notenbeispiel und das Zitat sind direkte Anspielungen auf Turandot. Der erste Satz, den Kalaf dort singt ist „Peking, Stadt der Wunder!“. Dazu erklingt im Orchester eine melodische Umkehrung dessen,
was Busoni hier skiziert. An einigen Stellen weicht er jedoch davon ab, so beginnt er in der Oper mit einem Quartfall und endet im dritten Takt mit einem Quintsprung, während er hier mit einem Quintsprung beginnt und
mit einem Quartfall endet. Außerdem steht das Original in A-Dur, hier schreibt er e-Moll.
Sechs Monate habe ich gebraucht,
um zu mir zu kommen. (Man sagt,
ich sei um die fünf Jahre wieder
verjüngt, die ich dort alterte.)
Ich begreife, dass Sie dem Orte
gern „den Rücken kehrten“, wie
Sie sich korrekt ausdrückten.
Nun, so Gott will, auf
Wiedersehen im wunderschönen
Monat, wo mit anderen Knospen
auch Arlecchino springen wird;
und hoffen wir, dass die Sprünge
keine Risse werden, es wären
denn Kulissen-Reißer. (Schrieb ich
bereits an eine Freundin.) –
Grüßen
Sie Barbara – (die Barbaren, die
Barbaren!) – auf das Herzlichste
Über Ihre sehr lieben, verständniswilligen Worte für Die Brautwahl habe ich mich innig
gefreut.
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<lb/>Ihr <rs key="E0400498">Quintett</rs> hören sollten, dessen
<lb/>Gelingen ich herzlichst herbeiwünsche!
<!-- Daten zum Konzert? -->
<lb/>Ich bin hier für <hi rend="underline"><choice><orig>2</orig><reg>zwei</reg></choice> Wochen</hi> mit <hi rend="underline">sechs</hi>
<lb/>Konzerten völlig eingespannt. Ich
<!-- Daten zu den römischen Konzerten? -->
<lb/>sehne die Zeit vorbei: eine unvernünf<orig>t</orig>
<lb break="no"/><reg>t</reg>ige Sehnsucht; denn in der T<orig>h</orig>at<reg>,</reg> nur
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<lb/>soll Ihre Sonate gut vermittelt haben.
<!-- nicht mit dem Brief überliefert; identifizierbar? -->
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<p rend="indent-first">
<persName key="E0300701">Frau Kwast<choice><orig> </orig><reg>-</reg></choice>Hodapp</persName> (genannt die
<lb/><soCalled>Hoden-Quarte</soCalled>) ist eine feine Natur
<!-- ist der Spitzname irgendwo belegt? -->
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> eine tüchtige Arbeiterin. – Jedenfalls
<lb/>ist ein erster kleiner Schritt get<orig>h</orig>an, mit
<lb/>den drei <rs key="E0600182">Kammermusik<choice><orig> </orig><reg>-</reg></choice>Vorführungen</rs>
<lb/>Ihrer Werke. Ich bin nicht um Sie
<!-- welche Konzerte sind gemeint? -->
<lb/>besorgt, falls Sie sich für <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> ent
<lb break="no"/>schlössen; doch kann ich im Voraus
<lb/>Ihnen <del rend="strikethrough">k</del> <choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>ichts zur Verfügung
<lb/>stellen, das mich berechtigte, Sie
<lb/>dazu zu ermut<orig>h</orig>igen.
</p>
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2Faksimile
2Diplomatische Umschrift
2XML
N.Mus.Nachl. 30, 72
2
Wie sehr ich mich freue, Sie
wiederzusehen, Sie bei mir zu haben,
die Opern mit Ihnen zu erleben!
Das ist natürlich. – Ich werde auch
ungezwungen u. frei sein bei meiner
Rückkehr. Zum Reisen u. Konzertieren
bin ich nicht geboren u. die harte
Erziehung dazu hat meine Neigung
nicht geweckt. Nun fühle ich mich
dieser Situation eher fremder gegenüber.
Zumal in Italien, in Rom, wo das Publi- -kum mit dem Künstler Ball wirft und
sich als seinen Besitzer geberdet. (Als
ich nicht mehr „Bis“ spielen wollte,
wurde es drohend und pfiff …!)
Heute Abends gehe ich meinen zweiten Gang durch dieses Purgatorium. uUnd
noch weitere vier stehen mir bevor.
– Mein Freund Brecher hatte Nichts
Besseres zu thun, als hierherzukommen
um den Parsifal zu dirigieren! Er ist
jetzt in reichsten Berliner Juden-
-Kreisen verheirathet und sitzt
zwischen zwei Stühlen, sonst stellungs- los, aber doch in Geldaristokratischer
Athmosphaere gewickelt, wie ein
weiches Ei in vergoldeter Holzwolle.
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<p rend="indent-first space-above">
Wie sehr ich mich freue, Sie
<lb/>wiederzusehen, Sie bei mir zu haben,
<lb/><rs type="works" key="E0400153 E0400133">die Opern</rs> mit Ihnen zu erleben!
<lb/>Das ist natürlich. – Ich werde auch
<lb/>ungezwungen <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> frei sein bei meiner
<lb/>Rückkehr. Zum Reisen <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> Konzertieren
<lb/>bin ich nicht geboren<reg>,</reg> <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> die harte
<lb/>Erziehung dazu hat meine Neigung
<lb/>nicht geweckt. Nun fühle ich mich
<lb/>dieser Situation eher fremder gegenüber.
<lb/>Zumal in <placeName key="E0500013">Italien</placeName>, in <placeName key="E0500020">Rom</placeName>, wo das Publi
<lb break="no" rend="after:-"/>kum mit dem Künstler Ball wirft und
<lb/>sich als seinen Besitzer geb<choice><orig>e</orig><reg>ä</reg></choice>rdet. (Als
<lb/>ich nicht mehr <soCalled rend="dq-du" xml:lang="it">Bis</soCalled> spielen wollte,
<lb/>wurde es drohend und pfiff …!)
<!-- Erläuterung "bis"? -->
<lb/>Heute <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>bends gehe ich meinen <hi rend="underline">zweiten</hi>
<lb/>Gang durch dieses Purgatorium<add place="inline">.</add> <subst><del rend="overwritten">u</del><add place="across">U</add></subst>nd
<lb/>noch weitere vier stehen mir bevor.</p>
<p type="pre-split"><orig>– </orig>Mein Freund <persName key="E0300440">Brecher</persName> hatte <choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>ichts
<lb/>Besseres zu t<orig>h</orig>un, als hierherzukommen<reg>,</reg>
<lb/>um den <title key="E0400163">Parsifal</title> zu dirigieren! Er ist
<lb/>jetzt in reichsten <placeName key="E0500029">Berliner</placeName> Juden-
<lb break="no" rend="after:-"/>Kreisen verheirat<orig>h</orig>et und sitzt
<lb/>zwischen zwei Stühlen, sonst stellungs
<lb break="no"/>los, aber doch in <choice><orig>G</orig><reg>g</reg></choice>eldaristokratischer
<lb/>At<orig>h</orig>mosph<choice><orig>ae</orig><reg>ä</reg></choice>re gewickelt, wie ein
<lb/>weiches Ei in vergoldeter Holzwolle.
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3Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 72
Man könnte auch lachen. – Die
Menschen sehen immer mehr auf
kürzere Strecken. Sie begreifen den
Werth der „Gegenwart“, aber nicht um
eine Sekunde darüber. –
– Zürich! Stadt der Zuflucht!
Umkehrung von Peking!
Das Notenbeispiel und das Zitat sind direkte Anspielungen auf Turandot. Der erste Satz, den Kalaf dort singt ist „Peking, Stadt der Wunder!“. Dazu erklingt im Orchester eine melodische Umkehrung dessen,
was Busoni hier skiziert. An einigen Stellen weicht er jedoch davon ab, so beginnt er in der Oper mit einem Quartfall und endet im dritten Takt mit einem Quintsprung, während er hier mit einem Quintsprung beginnt und
mit einem Quartfall endet. Außerdem steht das Original in A-Dur, hier schreibt er e-Moll.
Sechs Monate habe ich gebraucht
um zu mir zu kommen. (Man sagt,
ich sei um die fünf Jahre wieder
verjüngt, die ich dort alterte.)
Ich begreife, dass Sie dem Orte gern „den Rücken kehrten“, wie
Sie sich korrekt ausdrückten.
Nun, so Gott will, auf
Wiedersehen im wunderschönen
Monat, wo mit anderen Knospen
auch Arlecchino Springen wird;
u. hoffen wir, dass die Sprünge
keine Risse werden, es wären
den Kulissen-Reisser. (schrieb ich
bereits an eine Freundin.) – Grüssen
Sie Barbara – (die Barbaren, die
Barbaren!) – auf das Herzlichste
Über Für Ihre sehr lieben, verständnis- willigen Worte d für die Brautwahl, habe ich mich innig
gefreut.
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<note type="shelfmark" place="top-left" resp="#archive">N.Mus.Nachl. 30, 72</note>
<lb/>Man könnte auch lachen. – Die
<lb/>Menschen sehen immer mehr auf
<lb/>kürzere Strecken. Sie begreifen den
<lb/>Wert<orig>h</orig> der <soCalled rend="dq-du">Gegenwart</soCalled>, aber nicht um
<lb/>eine Sekunde darüber.<orig> –</orig>
</p>
<p>
<orig>– </orig><placeName key="E0500132">Zürich</placeName>! Stadt der Zuflucht!
<lb/>Umkehrung von <placeName key="E0500461">Peking</placeName>!
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<desc>Mit <q>adagio melancolico</q> überschriebene, nach Moll gewendete Umkehrung des Orchestermotivs aus <persName key="E0300017">Busonis</persName> Oper <title key="E0400153">Turandot</title> (zu Kalafs erstem Satz <q rend="dq-du">Peking, Stadt der Wunder!</q>).</desc>
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<!-- Umkehrung eines Turandot-Motivs? (Peking, Zuflucht?) -->
<note type="commentary" resp="#E0300741">
Das Notenbeispiel und das Zitat sind direkte Anspielungen auf <title key="E0400153">Turandot</title>. Der erste Satz, den Kalaf dort singt ist <q>Peking, Stadt der Wunder!</q>. Dazu erklingt im Orchester eine melodische Umkehrung dessen,
was <persName key="E0300017">Busoni</persName> hier skiziert. An einigen Stellen weicht er jedoch davon ab, so beginnt er in der Oper mit einem Quartfall und endet im dritten Takt mit einem Quintsprung, während er hier mit einem Quintsprung beginnt und
mit einem Quartfall endet. Außerdem steht das Original in A-Dur, hier schreibt er e-Moll.
</note>
<lb/>Sechs Monate habe ich gebraucht<reg>,</reg>
<lb/>um zu mir zu kommen. (Man sagt,
<lb/>ich sei um die fünf Jahre wieder
<lb/>verjüngt, die ich dort alterte.)
<lb/>Ich begreife, dass Sie <rs key="E0500132">dem Orte</rs>
<lb/>gern <q rend="dq-du">den Rücken kehrten</q>, wie
<lb/>Sie sich korrekt ausdrückten.
</p>
<p rend="indent-first space-above">
Nun, so Gott will, auf
<lb/>Wiedersehen im wunderschönen
<lb/>Monat, wo mit anderen Knospen
<lb/>auch <title key="E0400133">Arlecchino</title> <choice><orig>S</orig><reg>s</reg></choice>pringen wird;
<!-- Anspielung "wunderschönen Monat", "springen" (sprangen) erläutern -->
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> hoffen wir, dass die Sprünge
<lb/>keine Risse werden, es wären
<lb/>den<corr>n</corr> Kulissen-Rei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>er. (<choice><orig>s</orig><reg>S</reg></choice>chrieb ich
<!-- was ist ein Kulissenreißer? -->
<lb/>bereits an <rs>eine Freundin</rs>.) – <seg type="closer" subtype="salute">Grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en
<!-- an welche Freundin? Brief nachweisbar? -->
<lb/>Sie <persName key="E0300664">Barbara</persName> – (die Barbaren, die
<lb/>Barbaren!) – auf das Herzlichste</seg>
</p>
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<signed rend="indent">von Ihrem Freunde</signed>
<signed rend="align(right)"><persName key="E0300017">Ferruccio Busoni</persName><orig>.</orig></signed>
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<p rend="small"><subst><add place="margin-left">Über </add><del rend="strikethrough">Für</del></subst> Ihre sehr lieben, verständnis
<lb break="no"/>willigen Worte <del rend="strikethrough">d</del> für <title key="E0400138" rend="underline"><choice><orig>d</orig><reg>D</reg></choice>ie Brautwahl</title><orig>,</orig> habe ich mich innig
<lb/>gefreut.</p>
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[Rückseite von Textseite 1]
Preußischer
Staats- bibliothek
zu Berlin Kulturbesitz
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,72 |
Busoni berichtet von Berliner Konzerten mit Werken Jarnachs; beschreibt das Konzertreisen als ihm wesensfremd; empfindet das Publikum in Rom als unbotmäßig fordernd; äußert sich zu Gustav Brechers Umfeld; freut sich auf Jarnachs Anwesenheit bei den Berliner Aufführungen von Turandot und Arlecchino im Mai.
Brief von Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach (Rom, 20. April 1921), bearbeitet von Kira Herbing, in: Briefwechsel Ferruccio Busoni – Philipp Jarnach, hrsg. von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Berlin: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, April 2021: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, https://busoni-nachlass.org/D0101710 (8. Januar 2021: zur Freigabe vorgeschlagen)
Download der bereinigten Lesefassung im PDF-Dateiformat (.pdf)
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<title xml:lang="de">Brief von Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach (Rom, 20. April 1921)</title>
<title xml:lang="en">Letter by Ferruccio Busoni to Philipp Jarnach (Rom, 20 April 1921)</title>
<author key="E0300017">Ferruccio Busoni</author>
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<title type="main">Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften</title>
<title type="genre">Briefe</title>
<title type="subseries" key="E010010">Briefwechsel Ferruccio Busoni – Philipp Jarnach</title>
<editor key="E0300314">Christian Schaper</editor>
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<handNote xml:id="major_hand" scope="major" medium="black_ink" scribe="author" scribeRef="#E0300017">Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift</handNote>
<handNote xml:id="gerda.busoni" scope="minor" medium="pencil" scribe="relative" scribeRef="#E0300059">Hand Gerda Busonis, die auf der Rückseite mit Bleistift das Datum notiert hat</handNote>
<handNote xml:id="archive" scope="minor" medium="pencil" scribe="archivist">Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat</handNote>
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<p>Erfassung von Briefen und Schriften von Ferruccio Busoni, ausgehend von Busonis Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz.</p>
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<p>Worttrennungen an Zeilenumbrüchen im Original mit einfachen Bindestrichen.</p>
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<p>Alle im Text vorkommenden Interpunktionszeichen wurden beibehalten und werden in der diplomatischen Umschrift wiedergegeben. Bei Auszeichnung durch XML-Elemente wurden umgebende Satzzeichen nicht mit einbezogen.</p>
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<p>Anführungszeichen wurden i. d. R. nicht beibehalten; die Art der Zeichen wurde im Attribut <att>rend</att> der entsprechenden Elemente codiert.</p>
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<div type="transcription">
<pb n="1"/>
<note type="shelfmark" place="top-left" resp="#archive">N.Mus.Nachl. 30, 72</note>
<note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">1</note>
<dateline rend="align(right)"><placeName key="E0500020" xml:lang="it">Roma</placeName><reg>,</reg> <placeName>Hôtel des Princes</placeName><reg>,</reg>
<lb/><date when-iso="1921-04-20">20<reg>.</reg> Apr. 1921</date></dateline>
<p><seg type="opener" subtype="salute" rend="huge"><abbr>L <persName key="E0300376">Ph J</persName></abbr></seg> ich vermut<orig>h</orig>e
<lb/><seg rend="indent-2">Sie in <placeName key="E0500029">Berlin</placeName>, wo Sie heute</seg>
<lb/>Ihr <rs key="E0400498">Quintett</rs> hören sollten, dessen
<lb/>Gelingen ich herzlichst herbeiwünsche!
<!-- Daten zum Konzert? -->
<lb/>Ich bin hier für <hi rend="underline"><choice><orig>2</orig><reg>zwei</reg></choice> Wochen</hi> mit <hi rend="underline">sechs</hi>
<lb/>Konzerten völlig eingespannt. Ich
<!-- Daten zu den römischen Konzerten? -->
<lb/>sehne die Zeit vorbei: eine unvernünf<orig>t</orig>
<lb break="no"/><reg>t</reg>ige Sehnsucht; denn in der T<orig>h</orig>at<reg>,</reg> nur
<lb/>die gegenwärtigste Gegenwart gilt, und
<lb/>die Zeit eilt von selbst weiter; ist dieses
<lb/><add place="margin-left">doch</add> das Einzige, das sie vermag zu vollbringen!
<lb/><ref target="#D0101735">Ihren letzten Brief</ref> nahm ich mit hierher,
<lb/>um ihn zu beantworten. Auch diese<add place="inline">n</add> Zeitungs
<lb break="no"/><choice><orig>B</orig><reg>b</reg></choice>ericht, den ich beilege. <persName key="E0300700">Herr Klein <mentioned rend="dq-uu">von Giltay</mentioned></persName>
<lb/>soll Ihre Sonate gut vermittelt haben.
<!-- nicht mit dem Brief überliefert; identifizierbar? -->
</p>
<p rend="indent-first">
<persName key="E0300701">Frau Kwast<choice><orig> </orig><reg>-</reg></choice>Hodapp</persName> (genannt die
<lb/><soCalled>Hoden-Quarte</soCalled>) ist eine feine Natur
<!-- ist der Spitzname irgendwo belegt? -->
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> eine tüchtige Arbeiterin. – Jedenfalls
<lb/>ist ein erster kleiner Schritt get<orig>h</orig>an, mit
<lb/>den drei <rs key="E0600182">Kammermusik<choice><orig> </orig><reg>-</reg></choice>Vorführungen</rs>
<lb/>Ihrer Werke. Ich bin nicht um Sie
<!-- welche Konzerte sind gemeint? -->
<lb/>besorgt, falls Sie sich für <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> ent
<lb break="no"/>schlössen; doch kann ich im Voraus
<lb/>Ihnen <del rend="strikethrough">k</del> <choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>ichts zur Verfügung
<lb/>stellen, das mich berechtigte, Sie
<lb/>dazu zu ermut<orig>h</orig>igen.
</p>
<pb n="2"/>
<note type="shelfmark" place="top-left" resp="#archive">N.Mus.Nachl. 30, 72</note>
<note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">2</note>
<p rend="indent-first space-above">
Wie sehr ich mich freue, Sie
<lb/>wiederzusehen, Sie bei mir zu haben,
<lb/><rs type="works" key="E0400153 E0400133">die Opern</rs> mit Ihnen zu erleben!
<lb/>Das ist natürlich. – Ich werde auch
<lb/>ungezwungen <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> frei sein bei meiner
<lb/>Rückkehr. Zum Reisen <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> Konzertieren
<lb/>bin ich nicht geboren<reg>,</reg> <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> die harte
<lb/>Erziehung dazu hat meine Neigung
<lb/>nicht geweckt. Nun fühle ich mich
<lb/>dieser Situation eher fremder gegenüber.
<lb/>Zumal in <placeName key="E0500013">Italien</placeName>, in <placeName key="E0500020">Rom</placeName>, wo das Publi
<lb break="no" rend="after:-"/>kum mit dem Künstler Ball wirft und
<lb/>sich als seinen Besitzer geb<choice><orig>e</orig><reg>ä</reg></choice>rdet. (Als
<lb/>ich nicht mehr <soCalled rend="dq-du" xml:lang="it">Bis</soCalled> spielen wollte,
<lb/>wurde es drohend und pfiff …!)
<!-- Erläuterung "bis"? -->
<lb/>Heute <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>bends gehe ich meinen <hi rend="underline">zweiten</hi>
<lb/>Gang durch dieses Purgatorium<add place="inline">.</add> <subst><del rend="overwritten">u</del><add place="across">U</add></subst>nd
<lb/>noch weitere vier stehen mir bevor.</p>
<p><orig>– </orig>Mein Freund <persName key="E0300440">Brecher</persName> hatte <choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>ichts
<lb/>Besseres zu t<orig>h</orig>un, als hierherzukommen<reg>,</reg>
<lb/>um den <title key="E0400163">Parsifal</title> zu dirigieren! Er ist
<lb/>jetzt in reichsten <placeName key="E0500029">Berliner</placeName> Juden-
<lb break="no" rend="after:-"/>Kreisen verheirat<orig>h</orig>et und sitzt
<!-- Brechers Ehefrau -->
<lb/>zwischen zwei Stühlen, sonst stellungs
<lb break="no"/>los, aber doch in <choice><orig>G</orig><reg>g</reg></choice>eldaristokratischer
<lb/>At<orig>h</orig>mosph<choice><orig>ae</orig><reg>ä</reg></choice>re gewickelt, wie ein
<lb/>weiches Ei in vergoldeter Holzwolle.
<pb n="3"/>
<note type="shelfmark" place="top-left" resp="#archive">N.Mus.Nachl. 30, 72</note>
<lb/>Man könnte auch lachen. – Die
<lb/>Menschen sehen immer mehr auf
<lb/>kürzere Strecken. Sie begreifen den
<lb/>Wert<orig>h</orig> der <soCalled rend="dq-du">Gegenwart</soCalled>, aber nicht um
<lb/>eine Sekunde darüber.<orig> –</orig>
</p>
<p>
<orig>– </orig><placeName key="E0500132">Zürich</placeName>! Stadt der Zuflucht!
<lb/>Umkehrung von <placeName key="E0500461">Peking</placeName>!
<notatedMusic place="center">
<ptr target="nb/D0101710_ex_1.xml"/>
<graphic height="60px" url="D0101710_ex_1.png"/>
<desc>Mit <q>adagio melancolico</q> überschriebene, nach Moll gewendete Umkehrung des Orchestermotivs aus <persName key="E0300017">Busonis</persName> Oper <title key="E0400153">Turandot</title> (zu Kalafs erstem Satz <q rend="dq-du">Peking, Stadt der Wunder!</q>).</desc>
</notatedMusic>
<!-- Umkehrung eines Turandot-Motivs? (Peking, Zuflucht?) -->
<note type="commentary" resp="#E0300741">
Das Notenbeispiel und das Zitat sind direkte Anspielungen auf <title key="E0400153">Turandot</title>. Der erste Satz, den Kalaf dort singt ist <q>Peking, Stadt der Wunder!</q>. Dazu erklingt im Orchester eine melodische Umkehrung dessen,
was <persName key="E0300017">Busoni</persName> hier skiziert. An einigen Stellen weicht er jedoch davon ab, so beginnt er in der Oper mit einem Quartfall und endet im dritten Takt mit einem Quintsprung, während er hier mit einem Quintsprung beginnt und
mit einem Quartfall endet. Außerdem steht das Original in A-Dur, hier schreibt er e-Moll.
</note>
<lb/>Sechs Monate habe ich gebraucht<reg>,</reg>
<lb/>um zu mir zu kommen. (Man sagt,
<lb/>ich sei um die fünf Jahre wieder
<lb/>verjüngt, die ich dort alterte.)
<lb/>Ich begreife, dass Sie <rs key="E0500132">dem Orte</rs>
<lb/>gern <q rend="dq-du">den Rücken kehrten</q>, wie
<lb/>Sie sich korrekt ausdrückten.
</p>
<p rend="indent-first space-above">
Nun, so Gott will, auf
<lb/>Wiedersehen im wunderschönen
<lb/>Monat, wo mit anderen Knospen
<lb/>auch <title key="E0400133">Arlecchino</title> <choice><orig>S</orig><reg>s</reg></choice>pringen wird;
<!-- Anspielung "wunderschönen Monat", "springen" (sprangen) erläutern -->
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> hoffen wir, dass die Sprünge
<lb/>keine Risse werden, es wären
<lb/>den<corr>n</corr> Kulissen-Rei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>er. (<choice><orig>s</orig><reg>S</reg></choice>chrieb ich
<!-- was ist ein Kulissenreißer? -->
<lb/>bereits an <rs>eine Freundin</rs>.) – <seg type="closer" subtype="salute">Grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en
<!-- an welche Freundin? Brief nachweisbar? -->
<lb/>Sie <persName key="E0300664">Barbara</persName> – (die Barbaren, die
<lb/>Barbaren!) – auf das Herzlichste</seg>
</p>
<closer>
<signed rend="indent">von Ihrem Freunde</signed>
<signed rend="align(right)"><persName key="E0300017">Ferruccio Busoni</persName><orig>.</orig></signed>
</closer>
<postscript>
<p rend="small"><subst><add place="margin-left">Über </add><del rend="strikethrough">Für</del></subst> Ihre sehr lieben, verständnis
<lb break="no"/>willigen Worte <del rend="strikethrough">d</del> für <title key="E0400138" rend="underline"><choice><orig>d</orig><reg>D</reg></choice>ie Brautwahl</title><orig>,</orig> habe ich mich innig
<lb/>gefreut.</p>
</postscript>
<pb n="4"/>
<note type="objdesc" resp="#E0300314">[Rückseite von Textseite 1]</note>
<note type="stamp" place="bottom-center" resp="#sbb_st_red">
<stamp rend="round border align(center) majuscule tiny">Preußischer
<lb/>Staats
<lb break="no"/>bibliothek
<lb/>zu <placeName key="E0500029">Berlin</placeName>
<lb/>Kulturbesitz
</stamp>
</note>
<pb n="5"/>
<note type="objdesc" resp="#E0300314">[Rückseite von Textseite 2]</note>
<note type="stamp" place="bottom-center" resp="#sbb_st_red">
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<lb/>Staats
<lb break="no"/>bibliothek
<lb/>zu <placeName key="E0500029">Berlin</placeName>
<lb/>Kulturbesitz
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</note>
<pb n="6"/>
<note type="objdesc" resp="#E0300314">[Rückseite von Textseite 3]</note>
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<stamp rend="round border align(center) majuscule tiny">Preußischer
<lb/>Staats
<lb break="no"/>bibliothek
<lb/>zu <placeName key="E0500029">Berlin</placeName>
<lb/>Kulturbesitz
</stamp>
</note>
<note type="dating" resp="#gerda.busoni" place="bottom-right" xml:id="gerda_date" rend="rotate(180)"><date when-iso="1921-04-20">20 april 21</date></note>
</div>
</body>
</text>
</TEI>