Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Berlin · 17. Februar 1922

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N.Mus.Nachl. 30, 130
Berlin 16–17 Febr. 1922

Mein lieber, verehrter Meister! – Heute
früh überraschte mich Ihr lieber, schöner
Brief Der Brief, auf den Jarnach verweist, ist offenbar nicht erhalten. beim Frühstück; er ließ mich den
Groll vergessen, den ein mit der gleichen
Post angekommenes Schreiben Schlesingers
in mir erweckte; in letzterem äußerte
sich nämlich Herr Lienau in gänzlich
ablehnender Art über eine, von Schott
angeregte und auch von mir gewünschte
eventuelle Uebernahme meines Quintetts
durch den Mainzer Verlag. Das Streichquintett op. 10 war erstmals am 10. März 1920 bei Schlesinger erschienen. Nach der erfolgreichen Aufführung bei den ersten Donaueschinger Musiktagen 1921 sicherte Jarnach dem Verlag B. Schott’s Söhne das Vorkaufsrecht für alle seine Werke zu. Das Streichquintett wurde jedoch nicht im Nachhinein von Schott übernommen (Weiss 1996, S. 135f. u. 410f.). Ich hatte die-
sen Brief zuerst gelesen, und den Ihrigen
für den Schluß aufgespart, um nicht wie
die Kinder zu machen, welche zunächst
den Zucker essen und hernach das Ri-
cinus-Oel einnehmen.

Da ich von Frl. Simon – obgleich Sie
mit ihren Besuchen nicht kargt – bis
jetzt noch nichts über Ihr Schreiben an
sie erfuhr, bin ich auf die wenigen
persönlichen Bemerkungen in Ihrem Brief
angewiesen. Daß Sie das englische Publico

Berlin, 16.–17. Febr. 1922

Mein lieber, verehrter Meister!

Heute früh überraschte mich Ihr lieber, schöner Brief Der Brief, auf den Jarnach verweist, ist offenbar nicht erhalten. beim Frühstück; er ließ mich den Groll vergessen, den ein mit der gleichen Post angekommenes Schreiben Schlesingers in mir erweckte; in Letzterem äußerte sich nämlich Herr Lienau in gänzlich ablehnender Art über eine von Schott angeregte und auch von mir gewünschte eventuelle Übernahme meines Quintetts durch den Mainzer Verlag. Das Streichquintett op. 10 war erstmals am 10. März 1920 bei Schlesinger erschienen. Nach der erfolgreichen Aufführung bei den ersten Donaueschinger Musiktagen 1921 sicherte Jarnach dem Verlag B. Schott’s Söhne das Vorkaufsrecht für alle seine Werke zu. Das Streichquintett wurde jedoch nicht im Nachhinein von Schott übernommen (Weiss 1996, S. 135f. u. 410f.). Ich hatte diesen Brief zuerst gelesen und den Ihrigen für den Schluss aufgespart, um nicht wie die Kinder zu machen, welche zunächst den Zucker essen und hernach das Rizinus-Öl einnehmen.

Da ich von Frl. Simon – obgleich sie mit ihren Besuchen nicht kargt – bis jetzt noch nichts über Ihr Schreiben an sie erfuhr, bin ich auf die wenigen persönlichen Bemerkungen in Ihrem Brief angewiesen. Dass Sie das englische Publico, wie Sie sagen, diesmal als Komponist ablehnt, möchte ich doch nicht ganz wörtlich nehmen; Busoni befand sich im Januar und Februar 1922 in London und kurze Zeit später in Paris auf Konzertreise (vgl. Dent 1933 S. 265f.). diese Ablehnung wird sich wohl auf ein paar Redaktionssteiße beschränken, die vor selbsterrichteten Mode-Altären ihre futuristische Andacht täglich absolvieren. Im Übrigen bin ich hierin auf Vermutungen angewiesen, da mir das Verhältnis des englischen Publikums zur Musik total unbekannt und – ziemlich unvorstellbar ist. Ebendeswegen ist es mir schwer zu denken, dass dieses Publikum für oder wider etwas Stellung nimmt, das so gänzlich außerhalb seiner Sphäre liegt.

Ihre freundschaftlichen Ermahnungen fanden mich dankbar gestimmt; einmal, weil jede Bestätigung Ihrer herzlichen Gesinnung mir eine große Freude ist; und dann, weil ich das Gefühl habe, das meiste, wovor Sie mich warnen, endgültig überwunden zu haben. (Darüber bin ich ein wenig eitel; der Kamm schwillt mir, während ich schreibe, zusehends.) Erkenne ich so, wie sehr Sie Recht hatten, in vielem, was ich früher nicht einsah, kommt es mir vor, als hätten mich frühere Arbeiten und Äußerungen bei Ihnen etwas kompromittiert. Vielleicht dachten Sie auch zu gut von meinem damaligen Können und hielten manches für gewollt und empfunden, was nur gezwungene Gebärde einer noch unfreien Technik war – namentlich im Orchestersatz. Ich bin jetzt mehr imstande, meine Absichten ohne stilistische Untreuen durchzuführen.

Ob es mich reizte, für Klavier zu komponieren? Außerordentlich. Aber ich habe noch eine gewisse Scheu davor, es scheint mir jetzt das Schwerste zu sein. Ich werde es aber doch versuchen, es geht vielleicht leichter, als ich denke. Das Lied, das ich kürzlich schrieb – das letzte des kleinen Heftes; werde nicht so bald wieder die Konzertnachtigallen beunruhigen –, ist im Klaviersatz, der kleine Probleme bot, ziemlich gelungen. Übrigens haben diese Lieder mir schon Ärger gemacht. Die Uraufführung sollte am 8. Februar im Bechstein-Saal vom Stapel gehen. Nachdem ich wochenlang geschwitzt hatte, dem Herrn Kammersänger Ziegler eine erträgliche Interpretation beizubringen, erkrankte dieser am Konzerttage, und die Sache musste verschoben werden. Die Uraufführung der gesamten Fünf Gesänge op. 15 fand am 2. Mai 1922 in Berlin statt. Den Gesangspart übernahm der Bass-Bariton Wilhelm Guttmann, Jarnach selbst die Klavierbegleitung (vgl. Weiss 1996, S. 417). Da ich trotzdem dem Abend beiwohnte, machte ich die Bekanntschaft eines Quartetts von E. Goossens (könnte man nicht diesen Namen mit: „Gänserich“ übersetzen?), das mit unnahbaren Gebärden sich anließ und bald genug als eine kriechende Imitation von Ravel entpuppte. Da der Letztere hier wenig bekannt ist, wurde das Stück als Emanation des neubritischen Sonderstils (!!) lebhaft begrüßt.

Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ich Wassermanns „Wahnschaffe“ lese, wobei das Interesse, das der „Wendekreis“ in mir erweckt hatte, einen merklichen Rückschlag erleidet. Finde ich darin das bedeutende Erzählertalent bestätigt, so stört mich gleichermaßen die prophetische Allüre und der unstete, zum Teil ungepflegte, oft merkwürdig konventionelle Stil. Überall spürt man den Einfluss Dostojewskis, und es ist kein Zufall, dass er unter anderen zahlreichen Zitaten aus dem Neuen Testament auch das Motto der „Brüder Karamasoff“ anbringt. Das biblische Motto des Romans „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski lautet: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“ (Joh 12,24). Russisches Sozialempfinden wird westlich verpflanzt und verliert das Herbe, wird sentimental und tendenziös. Im letzten Grunde ist das Buch formlos; mich fesselt darin ausschließlich das starke Schilderungsvermögen, und freilich ist das auch nicht wenig!

Entschuldigen Sie diese langen Auslassungen. Ich hoffe, dass dieser Brief Sie noch in London erreicht. Wann kehren Sie uns zurück?

Alle herzlichsten Grüße von meiner Frau und Ihrem ergebenen Freund

                                                                
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wie Sie sagen, diesmal als Komponist ab-
lehnt, möchte ich doch nicht ganz wörtlich
nehmen; Busoni befand sich im Januar und Februar 1922 in London und kurze Zeit später in Paris auf Konzertreise (vgl. Dent 1933 S. 265f.). diese Ablehnung wird sich wohl
auf ein paar Redaktion[s]steiße beschränken,
die vor selbsterrichteten Mode-Altären ihre
futuristische Andacht täglich absolvieren. Im
uebrigen bin ich hierin auf Vermutungen
angewiesen, da mir das Verhältnis des
englischen Publikums zur Musik total un-
bekannt und – ziemlich unvorstellbar ist.
Eben deswegen ist es mir schwer zu
denken, daß dieses Publikum für oder
wider etwas Stellung nimmt, das so gänz-
lich außerhalb seiner Sphäre liegt.

Ihre freundschaftlichen Ermahnungen fanden
mich dankbar gestimmt; einmal, weil jede
Bestätigung Ihrer herzlichen Gesinnung mir
eine große Freude ist; und dann, weil ich
das Gefühl habe, das meiste, wovor Sie
mich warnen, endgültig überwunden zu
haben. (Darüber bin ich ein wenig eitel;
der Kamm schwillt mir, während ich
schreibe, zusehends.) Erkenne ich so, wie
sehr Sie Recht hatten, in Vielem, was Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

ich früher nicht einsah, kommt es mir
vor, als hätten mich frühere Arbeiten

                                                                
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2 und Aueßerungen bei Ihnen etwas kom-
promittiert. Vielleicht dachten Sie auch zu
gut von meinem damaligen Können und
hielten manches für gewollt und empfunden,
was nur gezwungene Gebärde einer noch
unfreien Technik war – namentlich im
Orchestersatz. Ich bin jetzt mehr imstande,
meine Absichten ohne stilistische Untreuen
durchzuführen.

Ob es mich reizte, für Klavier zu kom-
ponieren? Außerordentlich. Aber ich habe
noch eine gewisse Scheu davor, es scheint
mir jetzt das Schwerste zu sein. Ich
werde es aber doch versuchen, es geht
vielleicht leichter als ich denke. Das
Lied
, das ich kürzlich schrieb – das
letzte des kleinen Heftes; werde nicht
so bald wieder die Konzertnachtigallen
beunruhigen – ist im Klaviersatz, der
kleine Probleme bot, ziemlich gelungen.
Uebrigens haben diese Lieder mir
schon Aerger gemacht. Die Urauffüh-
rung sollte am 8. Febr. im Bechstein-
Saal
vom Stapel gehen. Nachdem ich
wochenlang geschwitzt hatte, dem Herrn
Kammersänger Ziegler
eine erträgliche

                                                                
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4Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 130
Interpretation beizubringen, erkrankte dieser
am Konzerttage und die Sache mußte
verschoben werden. Die Uraufführung der gesamten Fünf Gesänge op. 15 fand am 2. Mai 1922 in Berlin statt. Den Gesangspart übernahm der Bass-Bariton Wilhelm Guttmann, Jarnach selbst die Klavierbegleitung (vgl. Weiss 1996, S. 417). Da ich trotzdem dem
Abend beiwohnte, machte ich die Bekannt-
schaft eines Quartetts von E. Goossens
(könnte man nicht diesen Namen mit:
Gänserich übersetzen?) das mit unnah-
baren Gebärden sich anließ, und bald genug
als eine kriechende Imitation von Ravel
entpuppte. Da der letztere hier wenig be-
kannt ist, wurde das Stück als Emanation
des neubritischen Sonderstils (!!) lebhaft
begrüßt.

Zum Schluß möchte ich noch erwähnen,
daß ich Waßermanns „Wahnschaffe“ lese,
wobei das Interesse, das der „Wendekreis“
in mir erweckt hatte, einen merklichen
Rückschlag erleidet. Finde ich darin das
bedeutende Erzählertalent bestätigt, so stört
mich gleichermaßen die prophetische Allüre
und der unstete, zum Teil ungepflegte, oft
merkwürdig konventionelle Stil. Ueberall
spürt man den Einfluß Dostojewskis und
es ist kein Zufall, das er unter anderen
zahlreichen Zitaten aus dem Neuen Tes-
tament auch das Motto der „Brüder
Karamasoff“
anbringt. Das biblische Motto des Romans „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski lautet: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“ (Joh 12,24). Russisches Sozial-
empfinden wird westlich verpflanzt und Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

[am rechten Rand, längs:]
verliert das Herbe, wird sentimental und tendenziös. Im letzten
Grunde ist das Buch formlos; mich fesselt darin ausschließlich das
starke Schilderungsvermögen, und freilich ist das auch nicht wenig!


[am linken Rand, längs:]

Entschuldigen Sie diese langen Auslassungen. Ich hoffe, daß dieser Brief Sie
noch in London erreicht. Wann kehren Sie uns zurück? Alle herzlichsten
Grüße von meiner Frau und Ihrem ergebenen Freund

                                                                
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[…] höchstens 3 Zeichen: Papier fehlt. Jarnach. Regensburger Str. 10. Berlin W.50.
zu N.Mus.Nachl. 30, 130
Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,130 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss rechts, möglicherweise mit geringfügigem Textverlust.
Umfang
2 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Hand des Archivars, der mit Rotstift eine Foliierung vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach ärgert sich über Robert Lienaus Ablehnung einer „eventuelle[n] Übernahme“ seines „Streichquintetts op. 10“ durch Schott; äußert Vorbehalte gegenüber der Auffassung Busonis, das englische Publikum lehne dessen Werke ab; meint in seinem Komponieren früher von Busonis Kritisiertes „endgültig überwunden zu haben“; berichtet von der Fertigstellung von Liedern, der Absage von deren Uraufführung und seiner Enttäuschung von Jakob Wassermanns Roman Christian Wahnschaffe.
Incipit
Heute früh überraschte mich Ihr lieber, schöner Brief

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
8. November 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition