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N.Mus.Nachl. 30, 130
Mein lieber, verehrter Meister! – Heute
früh überraschte mich Ihr lieber, schöner
Brief
Der Brief, auf den Jarnach verweist, ist offenbar nicht erhalten.
beim Frühstück; er ließ mich den
Groll vergessen, den ein mit der gleichen
Post angekommenes Schreiben Schlesingers
in mir erweckte; in letzterem äußerte
sich nämlich Herr Lienau in gänzlich
ablehnender Art über eine, von Schott
angeregte und auch von mir gewünschte
eventuelle Uebernahme meines Quintetts
durch den Mainzer Verlag.
Das Streichquintett op. 10 war erstmals am 10. März 1920 bei Schlesinger erschienen. Nach der erfolgreichen Aufführung bei den ersten Donaueschinger Musiktagen 1921 sicherte Jarnach dem Verlag B. Schott’s Söhne das Vorkaufsrecht für alle seine Werke zu. Das Streichquintett wurde jedoch nicht im Nachhinein von Schott übernommen (Weiss 1996, S. 135f. u. 410f.).
Ich hatte die- sen Brief zuerst gelesen, und den Ihrigen
für den Schluß aufgespart, um nicht wie
die Kinder zu machen, welche zunächst
den Zucker essen und hernach das Ri- cinus-Oel einnehmen.
Da ich von Frl. Simon – obgleich Sie
mit ihren Besuchen nicht kargt – bis
jetzt noch nichts über Ihr Schreiben an
sie erfuhr, bin ich auf die wenigen
persönlichen Bemerkungen in Ihrem Brief
angewiesen. Daß Sie das englische Publico
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Mein lieber, verehrter Meister!
Heute
früh überraschte mich Ihr lieber, schöner
Brief
Der Brief, auf den Jarnach verweist, ist offenbar nicht erhalten.
beim Frühstück; er ließ mich den
Groll vergessen, den ein mit der gleichen
Post angekommenes Schreiben Schlesingers
in mir erweckte; in Letzterem äußerte
sich nämlich Herr Lienau in gänzlich
ablehnender Art über eine von Schott
angeregte und auch von mir gewünschte
eventuelle Übernahme meines Quintetts
durch den Mainzer Verlag.
Das Streichquintett op. 10 war erstmals am 10. März 1920 bei Schlesinger erschienen. Nach der erfolgreichen Aufführung bei den ersten Donaueschinger Musiktagen 1921 sicherte Jarnach dem Verlag B. Schott’s Söhne das Vorkaufsrecht für alle seine Werke zu. Das Streichquintett wurde jedoch nicht im Nachhinein von Schott übernommen (Weiss 1996, S. 135f. u. 410f.).
Ich hatte diesen Brief zuerst gelesen und den Ihrigen
für den Schluss aufgespart, um nicht wie
die Kinder zu machen, welche zunächst
den Zucker essen und hernach das Rizinus-Öl einnehmen.
Da ich von Frl. Simon – obgleich sie
mit ihren Besuchen nicht kargt – bis
jetzt noch nichts über Ihr Schreiben an
sie erfuhr, bin ich auf die wenigen
persönlichen Bemerkungen in Ihrem Brief
angewiesen. Dass Sie das englische Publico,
wie Sie sagen, diesmal als Komponist ablehnt, möchte ich doch nicht ganz wörtlich
nehmen;
Busoni befand sich im Januar und Februar 1922 in London und kurze Zeit später in Paris auf Konzertreise (vgl. Dent 1933 S. 265f.).
diese Ablehnung wird sich wohl
auf ein paar Redaktionssteiße beschränken,
die vor selbsterrichteten Mode-Altären ihre
futuristische Andacht täglich absolvieren. Im
Übrigen bin ich hierin auf Vermutungen
angewiesen, da mir das Verhältnis des
englischen Publikums zur Musik total unbekannt und – ziemlich unvorstellbar ist.
Ebendeswegen ist es mir schwer zu
denken, dass dieses Publikum für oder
wider etwas Stellung nimmt, das so gänzlich außerhalb seiner Sphäre liegt.
Ihre freundschaftlichen Ermahnungen fanden
mich dankbar gestimmt; einmal, weil jede
Bestätigung Ihrer herzlichen Gesinnung mir
eine große Freude ist; und dann, weil ich
das Gefühl habe, das meiste, wovor Sie
mich warnen, endgültig überwunden zu
haben. (Darüber bin ich ein wenig eitel;
der Kamm schwillt mir, während ich
schreibe, zusehends.) Erkenne ich so, wie
sehr Sie Recht hatten, in vielem, was
ich früher nicht einsah, kommt es mir
vor, als hätten mich frühere Arbeiten
und Äußerungen bei Ihnen etwas kompromittiert. Vielleicht dachten Sie auch zu
gut von meinem damaligen Können und
hielten manches für gewollt und empfunden,
was nur gezwungene Gebärde einer noch
unfreien Technik war – namentlich im
Orchestersatz. Ich bin jetzt mehr imstande,
meine Absichten ohne stilistische Untreuen
durchzuführen.
Ob es mich reizte, für Klavier zu komponieren? Außerordentlich. Aber ich habe
noch eine gewisse Scheu davor, es scheint
mir jetzt das Schwerste zu sein. Ich
werde es aber doch versuchen, es geht
vielleicht leichter, als ich denke. Das
Lied, das ich kürzlich schrieb – das
letzte des kleinen Heftes; werde nicht
so bald wieder die Konzertnachtigallen
beunruhigen –, ist im Klaviersatz, der
kleine Probleme bot, ziemlich gelungen.
Übrigens haben diese Lieder mir
schon Ärger gemacht. Die Uraufführung sollte am 8. Februar im Bechstein-Saal vom Stapel gehen. Nachdem ich
wochenlang geschwitzt hatte, dem Herrn
Kammersänger Ziegler eine erträgliche
Interpretation beizubringen, erkrankte dieser
am Konzerttage, und die Sache musste
verschoben werden.
Die Uraufführung der gesamten Fünf Gesänge op. 15 fand am 2. Mai 1922 in Berlin statt. Den Gesangspart übernahm der Bass-Bariton Wilhelm Guttmann, Jarnach selbst die Klavierbegleitung (vgl. Weiss 1996, S. 417).
Da ich trotzdem dem
Abend beiwohnte, machte ich die Bekanntschaft eines Quartetts von E. Goossens
(könnte man nicht diesen Namen mit:
„Gänserich“ übersetzen?), das mit unnahbaren Gebärden sich anließ und bald genug
als eine kriechende Imitation von Ravel
entpuppte. Da der Letztere hier wenig bekannt ist, wurde das Stück als Emanation
des neubritischen Sonderstils (!!) lebhaft
begrüßt.
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen,
dass ich Wassermanns „Wahnschaffe“ lese,
wobei das Interesse, das der „Wendekreis“
in mir erweckt hatte, einen merklichen
Rückschlag erleidet. Finde ich darin das
bedeutende Erzählertalent bestätigt, so stört
mich gleichermaßen die prophetische Allüre
und der unstete, zum Teil ungepflegte, oft
merkwürdig konventionelle Stil. Überall
spürt man den Einfluss Dostojewskis, und
es ist kein Zufall, dass er unter anderen
zahlreichen Zitaten aus dem Neuen Testament auch das Motto der „Brüder
Karamasoff“ anbringt.
Das biblische Motto des Romans „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski lautet: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“ (Joh 12,24).
Russisches Sozialempfinden wird westlich verpflanzt und
verliert das Herbe, wird sentimental und tendenziös. Im letzten
Grunde ist das Buch formlos; mich fesselt darin ausschließlich das
starke Schilderungsvermögen, und freilich ist das auch nicht wenig!
Entschuldigen Sie diese langen Auslassungen. Ich hoffe, dass dieser Brief Sie
noch in London erreicht. Wann kehren Sie uns zurück?
Alle herzlichsten
Grüße von meiner Frau und Ihrem ergebenen Freund
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<note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-left" rend="space-below">N.Mus.Nachl. 30, 130</note>
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<lb/>Post angekommenes Schreiben <orgName key="E0600065">Schlesingers</orgName>
<lb/>in mir erweckte; in <choice><orig>l</orig><reg>L</reg></choice>etzterem äußerte
<lb/>sich nämlich <persName key="E0300298">Herr Lienau</persName> in gänzlich
<lb/>ablehnender Art über eine<orig>,</orig> von <orgName key="E0600184">Schott</orgName>
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<lb/>durch den <rs key="E0600184"><placeName key="E0500083">Mainzer</placeName> Verlag</rs>.
<note type="commentary" resp="#E0300615">Das <title key="E0400498">Streichquintett op. 10</title> war erstmals am <date when-iso="1920-03-10">10. März 1920</date> bei <orgName key="E0600065">Schlesinger</orgName> erschienen. Nach der erfolgreichen Aufführung bei den ersten <orgName key="E0600182"><placeName key="E0500463">Donaueschinger</placeName> Musiktagen</orgName> <date when-iso="1921">1921</date> sicherte <persName key="E0300376">Jarnach</persName> dem Verlag <orgName key="E0600184">B. Schott’s Söhne</orgName> das Vorkaufsrecht für alle seine Werke zu. Das <title key="E0400498">Streichquintett</title> wurde jedoch nicht im Nachhinein von <orgName key="E0600184">Schott</orgName> übernommen <bibl>(<ref target="#E0800350"/>, S. 135f. u. 410f.)</bibl>.</note>
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<lb break="no"/>sen Brief zuerst gelesen<orig>,</orig> und den Ihrigen
<lb/>für den Schlu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> aufgespart, um nicht wie
<lb/>die Kinder zu machen, welche zunächst
<lb/>den Zucker essen und hernach das Ri
<lb break="no"/><choice><orig>c</orig><reg>z</reg></choice>inus-<choice><orig>Oe</orig><reg>Ö</reg></choice>l einnehmen.</p>
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<lb/>angewiesen. Da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Sie das <placeName key="E0500140">englische</placeName> Publico<reg>,</reg>
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wie Sie sagen, diesmal als Komponist ab- lehnt, möchte ich doch nicht ganz wörtlich
nehmen;
Busoni befand sich im Januar und Februar 1922 in London und kurze Zeit später in Paris auf Konzertreise (vgl. Dent 1933 S. 265f.).
diese Ablehnung wird sich wohl
auf ein paar Redaktion[s]steiße beschränken,
die vor selbsterrichteten Mode-Altären ihre
futuristische Andacht täglich absolvieren. Im
uebrigen bin ich hierin auf Vermutungen
angewiesen, da mir das Verhältnis des
englischen Publikums zur Musik total un- bekannt und – ziemlich unvorstellbar ist.
Eben deswegen ist es mir schwer zu
denken, daß dieses Publikum für oder
wider etwas Stellung nimmt, das so gänz- lich außerhalb seiner Sphäre liegt.
Ihre freundschaftlichen Ermahnungen fanden
mich dankbar gestimmt; einmal, weil jede
Bestätigung Ihrer herzlichen Gesinnung mir
eine große Freude ist; und dann, weil ich
das Gefühl habe, das meiste, wovor Sie
mich warnen, endgültig überwunden zu
haben. (Darüber bin ich ein wenig eitel;
der Kamm schwillt mir, während ich
schreibe, zusehends.) Erkenne ich so, wie
sehr Sie Recht hatten, in Vielem, was
Preußischer
Staats- bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
ich früher nicht einsah, kommt es mir
vor, als hätten mich frühere Arbeiten
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wie Sie sagen, diesmal als Komponist ab
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diese Ablehnung wird sich wohl
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<lb/>die vor selbsterrichteten Mode-Altären ihre
<lb/>futuristische Andacht täglich absolvieren. Im
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<lb/>angewiesen, da mir das Verhältnis des
<lb/><placeName key="E0500140">englischen</placeName> Publikums zur Musik total un
<lb break="no"/>bekannt und – ziemlich unvorstellbar ist.
<lb/>Eben<orig> </orig>deswegen ist es mir schwer zu
<lb/>denken, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> dieses Publikum für oder
<lb/>wider etwas Stellung nimmt, das so gänz
<lb break="no"/>lich außerhalb seiner Sphäre liegt.</p>
<p type="pre-split" rend="indent-first">Ihre freundschaftlichen Ermahnungen fanden
<lb/>mich dankbar gestimmt; einmal, weil jede
<lb/>Bestätigung Ihrer herzlichen Gesinnung mir
<lb/>eine große Freude ist; und dann, weil ich
<lb/>das Gefühl habe, das meiste, wovor Sie
<lb/>mich warnen, endgültig überwunden zu
<lb/>haben. (Darüber bin ich ein wenig eitel;
<lb/>der Kamm schwillt mir, während ich
<lb/>schreibe, zusehends.) Erkenne ich so, wie
<lb/>sehr Sie Recht hatten, in <choice><orig>V</orig><reg>v</reg></choice>ielem, was
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<lb/>Kulturbesitz
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<lb/>ich früher nicht einsah, kommt es mir
<lb/>vor, als hätten mich frühere Arbeiten
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2
und Aueßerungen bei Ihnen etwas kom- promittiert. Vielleicht dachten Sie auch zu
gut von meinem damaligen Können und
hielten manches für gewollt und empfunden,
was nur gezwungene Gebärde einer noch
unfreien Technik war – namentlich im
Orchestersatz. Ich bin jetzt mehr imstande,
meine Absichten ohne stilistische Untreuen
durchzuführen.
Ob es mich reizte, für Klavier zu kom- ponieren? Außerordentlich. Aber ich habe
noch eine gewisse Scheu davor, es scheint
mir jetzt das Schwerste zu sein. Ich
werde es aber doch versuchen, es geht
vielleicht leichter als ich denke. Das
Lied, das ich kürzlich schrieb – das
letzte des kleinen Heftes; werde nicht
so bald wieder die Konzertnachtigallen
beunruhigen – ist im Klaviersatz, der
kleine Probleme bot, ziemlich gelungen.
Uebrigens haben diese Lieder mir
schon Aerger gemacht. Die Urauffüh- rung sollte am 8. Febr. im Bechstein-
Saal vom Stapel gehen. Nachdem ich
wochenlang geschwitzt hatte, dem Herrn
Kammersänger Ziegler eine erträgliche
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<lb/>gut von meinem damaligen Können und
<lb/>hielten manches für gewollt und empfunden,
<lb/>was nur gezwungene Gebärde einer noch
<lb/>unfreien Technik war – namentlich im
<lb/>Orchestersatz. Ich bin jetzt mehr imstande,
<lb/>meine Absichten ohne stilistische Untreuen
<lb/>durchzuführen.</p>
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<lb break="no"/>ponieren? Außerordentlich. Aber ich habe
<lb/>noch eine gewisse Scheu davor, es scheint
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<lb/>werde es aber doch versuchen, es geht
<lb/>vielleicht leichter<reg>,</reg> als ich denke. <rs key="E0400530">Das
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<lb/>Kammersänger Ziegler</persName> eine erträgliche
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N.Mus.Nachl. 30, 130
Interpretation beizubringen, erkrankte dieser
am Konzerttage und die Sache mußte
verschoben werden.
Die Uraufführung der gesamten Fünf Gesänge op. 15 fand am 2. Mai 1922 in Berlin statt. Den Gesangspart übernahm der Bass-Bariton Wilhelm Guttmann, Jarnach selbst die Klavierbegleitung (vgl. Weiss 1996, S. 417).
Da ich trotzdem dem
Abend beiwohnte, machte ich die Bekannt- schaft eines Quartetts von E. Goossens
(könnte man nicht diesen Namen mit:
Gänserich übersetzen?) das mit unnah- baren Gebärden sich anließ, und bald genug
als eine kriechende Imitation von Ravel
entpuppte. Da der letztere hier wenig be- kannt ist, wurde das Stück als Emanation
des neu britischen Sonderstils (!!) lebhaft
begrüßt.
Zum Schluß möchte ich noch erwähnen,
daß ich Waßermanns „Wahnschaffe“ lese,
wobei das Interesse, das der „Wendekreis“
in mir erweckt hatte, einen merklichen
Rückschlag erleidet. Finde ich darin das
bedeutende Erzählertalent bestätigt, so stört
mich gleichermaßen die prophetische Allüre
und der unstete, zum Teil ungepflegte, oft
merkwürdig konventionelle Stil. Ueberall
spürt man den Einfluß Dostojewskis und
es ist kein Zufall, das er unter anderen
zahlreichen Zitaten aus dem Neuen Tes- tament auch das Motto der „Brüder
Karamasoff“ anbringt.
Das biblische Motto des Romans „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski lautet: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“ (Joh 12,24).
Russisches Sozial- empfinden wird westlich verpflanzt und
Preußischer
Staats- bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
[right border, lengthwise:]
verliert das Herbe, wird sentimental und tendenziös. Im letzten
Grunde ist das Buch formlos; mich fesselt darin ausschließlich das
starke Schilderungsvermögen, und freilich ist das auch nicht wenig!
[left border, lengthwise:]
Entschuldigen Sie diese langen Auslassungen. Ich hoffe, daß dieser Brief Sie
noch in London erreicht. Wann kehren Sie uns zurück? Alle herzlichsten
Grüße von meiner Frau und Ihrem ergebenen Freund
|
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<note type="shelfmark" resp="#archive" place="top" rend="space-below">N.Mus.Nachl. 30, 130</note>
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<lb break="no"/>schaft eines <rs key="E0400531">Quartetts</rs> von <persName key="E0300671">E. Goossens</persName>
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<lb/>entpuppte. Da der <choice><orig>l</orig><reg>L</reg></choice>etztere hier wenig be
<lb break="no"/>kannt ist, wurde das Stück als Emanation
<lb/>des neu<placeName key="E0500094">britischen</placeName> Sonderstils (!!) lebhaft
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<lb/>und der unstete, zum Teil ungepflegte, oft
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5Diplomatic transcription
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6Facsimile
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Preußischer
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Kulturbesitz
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