Lieber Freund Wegelius.
            
            
            Trotzdem ich  „knapp“ war
                in meinen Mitteilungen, so
                waren sie doch für dich verständlich. Wenn du aber
                ein festes Urteil erwartetest,
                so war es vergebens. Ich konnte
                einen Mann, der mir ein
                Mal, nach einem ohne
                Übung verbrachten Winter,
                in Befangenheit vorspielt und
                der davon die Entscheidung
                seiner Lebensfrage
                erwartet – nicht mit
                einem Schlag abtun!
               
               
               
               Doch hast du mich (ich
                wiederhole) zum guten
                Teil verstanden.
            
            Und (nehmen wir an),
                ich wäre in einem ganz
                entgegengesetzten Verhältnis
                zu den Äußerungen Klindworths
                gestanden, die du mit so viel
                Vertrauen anführst –
                du hättest mich sicherlich
                der Übereilung und Härte
                geziehen. Du hättest (mit
                Recht) gesagt, Klindworth müsse
                den Mann durch mehrjährigen
                Verkehr usw. besser kennen;
                Klindworths Urteil als Fachmann
               
               
               
               sei erprobt und dergleichen
                  mehr.
            
            Brauchst du einen „jungen,
                gefügigen“ Menschen, „der sich
                unterordnen kann, ohne dass
                Konflikte dadurch entstehen“,
                so hast du ihn, halt ihn fest.
            
            Das Klavierspiel mit „Anstand
                und Würde“ zu repräsentieren, ist
                schon eine höhere Aufgabe, die
                z. B. Prof. Barth in Berlin
                ungefähr erfüllt.
            
            Um, z. B., die Norma-Fantasie
                (die Herr Müller zu seinem Repertoire
                zählt) mit „Anstand und
                Würde“ zu spielen, muss man
               
               
               
               schon eine so verdammte Technik
                 besitzen, dass man über
                derselben steht. Wie leicht ginge
                sonst die Würde verloren, der
                Anstand flöten! – Also wird (bei deinen Anforderungen)
                der erste Kniff darin bestehen
                müssen, sein Repertoire mit
                Klugheit einzuschränken.
            
            Doch verstehe ich (ohne in
                absichtlichen Übertreibungen
                weiterzugehen), was du mit
                der anstands- und würdevollen
                Repräsentation des Klavierspiels
                verstehst, und glaube, dass Müller
                diesem Paragraphen Genüge
                tun wird.
            
            Du vermutest, dass der
                Müller ein besonders feinkerniges
                Mehl mahle, obwohl in den
               
               
               
               von dir zitierten Klind❊„worten“
                nichts davon stand. Doch darüber
                 fehlt mir
                unter den schon besagten Umständen
                das Urteil.
            
            Diese Auseinandersetzung
                war zwar nach deinem letzten
                Brief und dem Telegramm
                inzwischen unnötig geworden,
                doch ich möchte ihr nicht
                ausweichen.
            
            —
            
            Viele Menschen verdanken
                der Cholera ihren Tod, Müller
                aber seine Existenz. Der
                Mann ist gewiss so geartet, dass
                er genest, wenn er unfiltriertes
                Wasser trinkt, und gesund wird, wenn
                er Gurken in Milch genießt.
                                                                Offenbar ein lokaler oder temporärer Mythos, dass der gemeinsame Verzehr von Gurken und Milch gesundheitsgefährdend sei.
               
               
                
               
               
               
               Übrigens ist er wirklich
                zu dreiviertel Vegetarianer;
                dass er’s nicht ganz ist,
                erklärt sich daraus, dass er
                bei seiner Choleraunanfechtbarkeit
                nicht Vegetarianer „vom reinsten Wasser“
                zu sein braucht.
            
            Allerdings will er (es
                betrübt mich, es dir sagen
                zu müssen) seine nächsten
                Weihnachtsfreuden dadurch
                erhöhen, dass er sich „ein
                Weib nimmt.“ <So wird ihm
                der Christbaum zum
                Baum der Erkenntnis.>               
                Es wäre grausam, ihn deshalb
               
               
               
               aus dem Paradies eines
                schönen Lehrergehaltes
                hinauszustoßen.
            
            Deine Einwürfe gegen das
                Kindermachen werde ich ihm
                mit möglichster Energie vortragen; ich glaube aber nicht,
                dass er in den zwei Jahren mehr wie
                höchstens ein Exemplar fertigbrächte, da die Sache an
                bestimmte Zeit gebunden ist.
               
               —
            
            Ich freue mich herzlichst,
                allerherzlichst deiner beständigen
                Zuneigung zu mir und bin dir
                dafür tief dankbar. Ich
                hoffe recht sicher, dich im
                Januar in Helsingfors aufsuchen
                und uns gegenseitig Freude
                bereiten zu können.
                                                                Laut Dent habe Busoni im Februar 1895 ein Konzert in Helsinki gespielt (Dent 1974, S. 106); allerdings kehrte Busoni mit Sicherheit nicht vor Mai 1895 nach Helsinki zurück (siehe Brief vom 19. April 1895). Es handelt sich wahrscheinlich um eine Verwechslung mit einem Konzert in Moskau im Februar 1895 (vgl. Couling 2005, S. 154 f.), das wiederum bei Dent nicht auftaucht. Der Plan einer Konzerttournee Busonis durch Skandinavien war aber offenbar so weit ausgereift, dass sowohl Nya Pressen als auch Hufvudstadsbladet schon im September 1894 Stationen in Helsinki und St. Petersburg für das Frühjahr 1895 ankündigten (vgl. N. N. 1894c und N. N. 1894d). Beide Tageszeitungen enthalten keine Rezensionen über Busoni-Konzerte in diesem Zeitraum.
            
            
            
            
            
            Durch Breitkopf & Härtel
                ließ ich dir ein Partiturexemplar meines Symphonischen
                Tongedichtes zusenden.
                                                                Siehe Busoni / Breitkopf & Härtel / Hanau 2012, S. 28 (Brief Nr. 34 vom 4. Juli 1894).
               
               Lass
                mich etwas darüber hören.
                Im letzten Leßmann’schen
                Blatt (20. Juli) stand eine
                pompöse Rezension über
                mein bereits veraltetes „Konzertstück“.
                                                                Max Reger beschreibt Busonis „preisgekröntes“ Konzertstück in dieser Rezension als „Meisterwerk, wie es wohl nicht jeden Tag erscheint“, und bezeichnet das „Allegro molto“ insbesondere als „wirklich groß und hochgenial“ (Reger 1894).
               
               
            
            
               Die Meinen grüßen dich
                   und deine liebe Frau Hanna
                   auf das Herzlichste, desgleichen
                   tut dein
                   alter, ergebener
               Ferruccio B Busoni
               27. Juli 94,
                   Charlottenburg.