Ferruccio Busoni an Martin Wegelius arrow_backarrow_forward

Charlottenburg · 27. Juli 1894

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257 juli 1894a)3/

Lieber Freund Wegelius.

Trotzdem ich se „knapp“ war
in meinen Mittheilungen, so
waren sie doch für dich ver⸗
=staendlich. Wenn du aber
ein festes Urtheil erwartetest
so war es vergebens. Ich konnte
einen Mann, der mir ein
Mal, nach einem ohne
Übung verbrachten Winter,
in Befangenheit vorspielt u.
der davon die Entscheidung
seiner Lebensfrage
erwartet – nicht mit
einem Schlag abthun!

Lieber Freund Wegelius.

Trotzdem ich „knapp“ war in meinen Mitteilungen, so waren sie doch für dich verständlich. Wenn du aber ein festes Urteil erwartetest, so war es vergebens. Ich konnte einen Mann, der mir ein Mal, nach einem ohne Übung verbrachten Winter, in Befangenheit vorspielt und der davon die Entscheidung seiner Lebensfrage erwartet – nicht mit einem Schlag abtun! Doch hast du mich (ich wiederhole) zum guten Teil verstanden.

Und (nehmen wir an), ich wäre in einem ganz entgegengesetzten Verhältnis zu den Äußerungen Klindworths gestanden, die du mit so viel Vertrauen anführst – du hättest mich sicherlich der Übereilung und Härte geziehen. Du hättest (mit Recht) gesagt, Klindworth müsse den Mann durch mehrjährigen Verkehr usw. besser kennen; Klindworths Urteil als Fachmann sei erprobt und dergleichen mehr.

Brauchst du einen „jungen, gefügigen“ Menschen, „der sich unterordnen kann, ohne dass Konflikte dadurch entstehen“, so hast du ihn, halt ihn fest.

Das Klavierspiel mit „Anstand und Würde“ zu repräsentieren, ist schon eine höhere Aufgabe, die z. B. Prof. Barth in Berlin ungefähr erfüllt.

Um, z. B., die Norma-Fantasie (die Herr Müller zu seinem Repertoire zählt) mit „Anstand und Würde“ zu spielen, muss man schon eine so verdammte Technik besitzen, dass man über derselben steht. Wie leicht ginge sonst die Würde verloren, der Anstand flöten! – Also wird (bei deinen Anforderungen) der erste Kniff darin bestehen müssen, sein Repertoire mit Klugheit einzuschränken.

Doch verstehe ich (ohne in absichtlichen Übertreibungen weiterzugehen), was du mit der anstands- und würdevollen Repräsentation des Klavierspiels verstehst, und glaube, dass Müller diesem Paragraphen Genüge tun wird.

Du vermutest, dass der Müller ein besonders feinkerniges Mehl mahle, obwohl in den von dir zitierten Klindworten nichts davon stand. Doch darüber fehlt mir unter den schon besagten Umständen das Urteil.

Diese Auseinandersetzung war zwar nach deinem letzten Brief und dem Telegramm inzwischen unnötig geworden, doch ich möchte ihr nicht ausweichen.

Viele Menschen verdanken der Cholera ihren Tod, Müller aber seine Existenz. Der Mann ist gewiss so geartet, dass er genest, wenn er unfiltriertes Wasser trinkt, und gesund wird, wenn er Gurken in Milch genießt. Offenbar ein lokaler oder temporärer Mythos, dass der gemeinsame Verzehr von Gurken und Milch gesundheitsgefährdend sei. Übrigens ist er wirklich zu dreiviertel Vegetarianer; dass er’s nicht ganz ist, erklärt sich daraus, dass er bei seiner Choleraunanfechtbarkeit nicht Vegetarianer „vom reinsten Wasser“ zu sein braucht.

Allerdings will er (es betrübt mich, es dir sagen zu müssen) seine nächsten Weihnachtsfreuden dadurch erhöhen, dass er sich „ein Weib nimmt.“ <So wird ihm der Christbaum zum Baum der Erkenntnis.> Es wäre grausam, ihn deshalb aus dem Paradies eines schönen Lehrergehaltes hinauszustoßen.

Deine Einwürfe gegen das Kindermachen werde ich ihm mit möglichster Energie vortragen; ich glaube aber nicht, dass er in den zwei Jahren mehr wie höchstens ein Exemplar fertigbrächte, da die Sache an bestimmte Zeit gebunden ist.

Ich freue mich herzlichst, allerherzlichst deiner beständigen Zuneigung zu mir und bin dir dafür tief dankbar. Ich hoffe recht sicher, dich im Januar in Helsingfors aufsuchen und uns gegenseitig Freude bereiten zu können. Laut Dent habe Busoni im Februar 1895 ein Konzert in Helsinki gespielt (Dent 1974, S. 106); allerdings kehrte Busoni mit Sicherheit nicht vor Mai 1895 nach Helsinki zurück (siehe Brief vom 19. April 1895). Es handelt sich wahrscheinlich um eine Verwechslung mit einem Konzert in Moskau im Februar 1895 (vgl. Couling 2005, S. 154 f.), das wiederum bei Dent nicht auftaucht. Der Plan einer Konzerttournee Busonis durch Skandinavien war aber offenbar so weit ausgereift, dass sowohl Nya Pressen als auch Hufvudstadsbladet schon im September 1894 Stationen in Helsinki und St. Petersburg für das Frühjahr 1895 ankündigten (vgl. N. N. 1894c und N. N. 1894d). Beide Tageszeitungen enthalten keine Rezensionen über Busoni-Konzerte in diesem Zeitraum.

Durch Breitkopf & Härtel ließ ich dir ein Partiturexemplar meines Symphonischen Tongedichtes zusenden. Siehe Busoni / Breitkopf & Härtel / Hanau 2012, S. 28 (Brief Nr. 34 vom 4. Juli 1894). Lass mich etwas darüber hören. Im letzten Leßmann’schen Blatt (20. Juli) stand eine pompöse Rezension über mein bereits veraltetes „Konzertstück“. Max Reger beschreibt Busonis „preisgekröntes“ Konzertstück in dieser Rezension als „Meisterwerk, wie es wohl nicht jeden Tag erscheint“, und bezeichnet das „Allegro molto“ insbesondere als „wirklich groß und hochgenial“ (Reger 1894).

Die Meinen grüßen dich und deine liebe Frau Hanna auf das Herzlichste, desgleichen tut dein alter, ergebener

Ferruccio B Busoni

27. Juli 94, Charlottenburg.
(vom Schwedischen: Klint-) Schwed.: Klippe
                                                                
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Doch hast du mich (ich
wiederhole) zum guthen
Theil verstanden.

Und (nehmen wir […] 1 Zeichen: überschrieben. an)
ich waere in einem ganz
entgegen=gesetzten Verhältniß
zu den Aüsserungen Kl.’s
gestanden, die du mit soviel
Vertrauen anführst –
du haettest mich sicherlich
der Übereilung u. Haerte
geziehen. Du haettest (mit
Recht) gesagt, Kl. müße
den Mann durch mehreehrigen
Verkehr u. s. w. beßer kennen;
Kl.’s[…] mindestens 1 Wort: durchgestrichen. Urtheil als Fachmann

                                                                
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sei erprobt, und dergleichen
mehr. —

Brauchst du einen „jungen,
gefügigen“
Menschen „der sich
unterordnen kann, ohne daß
Conflikte dadurch entstehen“

so hast du ihn, halt’ ihn fest.

Das Clavierspiel mit „Anstand
u. Würde“
zu repräsentiren ist
schon eine höhere Aufgabe, die
z. B. Prof. Barth in Berlin
ungefaehr erfüllt.

Um, z. B., die Norma Fantasie
(die Herr M. zu seinem Repertoire
zählt) mit „Anstand u.
Würde“
zu spielen, muß man

                                                                
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schon eine so verdammte Technik
haben besitzen, daß man über
derselben steht. Wie leicht ginge
sonst die Würde verloren, der
Anstand floeten! – Also wird (bei deinen
Anforderungen)

der erste Kniff darin bestehen
müßen, sein Repertoire mit
Klugheit einzuschraenken.

Doch verstehe ich (ohne in
absichtlichen Übertreibungen
weiter zu gehen) was du mit
der anstands= u. würdevollen
Repräsentation des Clavierspiels
verstehst u. glaube, daß M.
diesem Paragraphen Genüge
thun wird.

Du vermuthest daß der
Müller ein besonders feinkerniges
Mehl mahle, obwohl in den

                                                                
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b) von dir citirten Klind×)worthen
nichts davon stand. Doch darüber
Jedenfalls ist fehlt mir
unter den schon […] mindestens 4, höchstens 5 Zeichen: überschrieben. besagten Umständen
das Urtheil.

Diese Auseinandersetzung
war zwar nach deinem letzten
Brief
u. dem Telegramm
inzwischen unnöthig geworden,
doch ich möchte ihr nicht
ausweichen.

Viele Menschen verdanken
der Cholera ihren Tod, M.
aber seine Existenz. Der
Mann ist gewiß so geartet, daß
er genest wenn er unfiltrirtes
Waßer trinkt u. gesund wird wenn
er Gurken in Milch genießt. Offenbar ein lokaler oder temporärer Mythos, dass der gemeinsame Verzehr von Gurken und Milch gesundheitsgefährdend sei.
×) (vom Schwedischen: Klint=) Schwed.: Klippe

                                                                
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Übrigens ist er wirklich
zu dreiviertel Vegetarianer;
daß er’s nicht ganz ist,
erklaert sich daraus, daß er
bei seiner Choleraunanfechtbarkeit
nicht Vegetar. „vom reinsten Waßer“
zu sein braucht.

Allerdings will er (es
betrübt mich es dir sagen
zu müßen) seine nächsten
Weihnachtsfreuden dadurch
erhöhen, daß er sich „ein
Weib nimmt.“
<So wird ihm
der Christbaum zum
Baum der Erkenntniß.>
Es waere grausam ihn deshalb

                                                                
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aus dem Paradies eines
schoenen Lehrergehaltes
hinauszustossen.

Deine Einwürfe gegen das
Kindermachen werde ich ihm
mit möglichster Energie vor⸗
=tragen: ich glaube aber nicht
daß ×er in den zwei Jahren mehr wie
höchstens ein Exemplar fertig
braechte, da die Sache an
bestimmte Zeit gebunden ist.

Ich freue mich herzlichst,
allerherzlichst deiner bestaendigen
Zuneinung zu mir u. bin dir
dafür tiefdankbar. Ich
hoffe recht sicher dich im
Januar in Helsingfors aufsuchen
und uns gegenseitig Freude
bereiten zu koennen. Laut Dent habe Busoni im Februar 1895 ein Konzert in Helsinki gespielt (Dent 1974, S. 106); allerdings kehrte Busoni mit Sicherheit nicht vor Mai 1895 nach Helsinki zurück (siehe Brief vom 19. April 1895). Es handelt sich wahrscheinlich um eine Verwechslung mit einem Konzert in Moskau im Februar 1895 (vgl. Couling 2005, S. 154 f.), das wiederum bei Dent nicht auftaucht. Der Plan einer Konzerttournee Busonis durch Skandinavien war aber offenbar so weit ausgereift, dass sowohl Nya Pressen als auch Hufvudstadsbladet schon im September 1894 Stationen in Helsinki und St. Petersburg für das Frühjahr 1895 ankündigten (vgl. N. N. 1894c und N. N. 1894d). Beide Tageszeitungen enthalten keine Rezensionen über Busoni-Konzerte in diesem Zeitraum.

                                                                
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Durch Breitkopf u Haertel
ließ ich dir ein Partitur=
Exemplar meines Symph.
Tongedichtes
zusenden. Siehe Busoni / Breitkopf & Härtel / Hanau 2012, S. 28 (Brief Nr. 34 vom 4. Juli 1894). Laß
mich Etwas darüber hoeren.
Im letzten Lessmann’schen
Blatt
(20. Juli) stand eine
pompoese Recension über
mein bereits veraltetes „Concert⸗
stueck“
. Max Reger beschreibt Busonis „preisgekröntes“ Konzertstück in dieser Rezension als „Meisterwerk, wie es wohl nicht jeden Tag erscheint“, und bezeichnet das „Allegro molto“ insbesondere als „wirklich groß und hochgenial“ (Reger 1894).

Die Meinen grueßen dich
u. deine liebe Frau Hanna
auf das Herzlichste, desgleichen
thut dein
alter, erge[…] 2 Zeichen: überschrieben. bener

Ferruccio B Busoni

27 Juli 94
Charlottenbg’.
                                                                
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Dokument

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Überlieferung
Finnland | Turku | Åbo Akademi University Library | Manuskriptsammlungen | Nachlass Otto Andersson, Band 58
Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
2 Bogen, 8 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Zählung des Korrespondenzstücks eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat

Zusammenfassung
Busoni rechtfertigt sich für seine „knappe“ Stellungnahme zu Kurt Müller; führt diese noch einmal deutlicher aus; hat eine Partitur seines Sinfonischen Tongedichtes durch Breitkopf & Härtel an Wegelius senden lassen und bittet um Kommentar; macht auf eine „pompöse Rezension in der Allgemeinen Musikzeitung von Max Reger zu seinem Konzerstück aufmerksam.
Incipit
Trotzdem ich „knapp“ war

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
19. März 2024: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition