Hugo Leichtentritt to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Berlin · February 15, 1914

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Mus.ep. H. Leichtentritt 5 (Busoni-Nachl. B II)
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2762
[1]
Berlin W. Winterfeld Str. 25a
d. 15. Febr. 1914.

Sehr verehrter Meister Busoni!

Es drängt mich, nach dem außerordentlichen Genuß
February 12, 1914am letzten Donnerstag, Ihnen zu sagen, wie stark
mich Ihr großes Werk wiederum – noch mehr als
früher – gepackt hat. Im Konzert vom 12. Februar 1914, dem ersten von zwei Orchesterabenden mit Kompositionen Busonis, wurden neben dem Konzert für Klavier und Orchester C-Dur mit Männerchor das Violinkonzert und die Bearbeitung von J. S. Bachs d-Moll-Konzert aufgeführt; Leichtentritt hatte das Programmheft verfasst (vgl. Berliner Tageblatt, 14. Februar 1914, Digitalisat). Viel lieber wäre ich öffentlich
an wirksamer Stelle als bescheidener Dolmetsch
Ihrer Kunst aufgetreten. Da dies mir jedoch dies⸗
mal nicht vergönnt ist, so freue ich mich wenigstens,
daß auch die früheren Gegner Nach der Uraufführung am 10. November 1904 musste Busoni einen „vorwiegend negativen Nachhall dieses Werkes“ vernehmen (Stuckenschmidt 1967, S. 27); vgl. hierzu den Brief von Busoni an Robert Freund vom 16. November 1904 sowie Weindel 2004, S. 102 ff. nun endlich einzu⸗
sehen beginnen, was wir in Ihnen haben, und
ich hoffe, Sie werden diesmal weniger Grund haben
als sonst, sich zu beklagen über die ablehnende,
kalte, verständnislose Art der Presse. Ich selbst sehe

Berlin W., Winterfeldtstr. 25a
den 15. Februar 1914.

Sehr verehrter Meister Busoni!

Es drängt mich, nach dem außerordentlichen Genuss February 12, 1914am letzten Donnerstag, Ihnen zu sagen, wie stark mich Ihr großes Werk wiederum – noch mehr als früher – gepackt hat. Im Konzert vom 12. Februar 1914, dem ersten von zwei Orchesterabenden mit Kompositionen Busonis, wurden neben dem Konzert für Klavier und Orchester C-Dur mit Männerchor das Violinkonzert und die Bearbeitung von J. S. Bachs d-Moll-Konzert aufgeführt; Leichtentritt hatte das Programmheft verfasst (vgl. Berliner Tageblatt, 14. Februar 1914, Digitalisat). Viel lieber wäre ich öffentlich an wirksamer Stelle als bescheidener Dolmetsch Ihrer Kunst aufgetreten. Da dies mir jedoch diesmal nicht vergönnt ist, so freue ich mich wenigstens, dass auch die früheren Gegner Nach der Uraufführung am 10. November 1904 musste Busoni einen „vorwiegend negativen Nachhall dieses Werkes“ vernehmen (Stuckenschmidt 1967, S. 27); vgl. hierzu den Brief von Busoni an Robert Freund vom 16. November 1904 sowie Weindel 2004, S. 102 ff. nun endlich einzusehen beginnen, was wir in Ihnen haben, und ich hoffe, Sie werden diesmal weniger Grund haben als sonst, sich zu beklagen über die ablehnende, kalte, verständnislose Art der Presse. Ich selbst sehe jetzt im Concerto ein Hauptwerk der ganzen modernen Musik, und ich bin überzeugt, dass dies Werk als ein Gipfelpunkt seiner Art leben wird und noch unseren Nachkommen eine Quelle des künstlerischen Genusses sein wird. In seiner Busoni-Biographie sieht Leichtentritt das Konzert als Abschluss des ersten Abschnitts im kompositorischen Schaffen Busonis: Es „zieht die Summe seines bisherigen Wirkens […], gibt aber vorausblickend schon viele Einsichten in die schon keimenden neuen Ideen“ (Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 45). Die wirklich vollendeten Kunstwerke sind meiner Ansicht nach dasjenige, was nicht altert und jedem Zeitalter etwas zu sagen hat. Auch eine solche Vollendung, eine volle Übereinstimmung zwischen Wollen und Können, einen vollen, starken, geklärten Ausdruck Ihrer Persönlichkeit finde ich in diesem Werke. Ich bin ja überzeugt davon, dass der Künstler immer vorwärts streben muss, dass Ausruhen auf den früheren Triumphen fast einem Zurückweichen gleichkommt. Daher alle Bestrebungen nach neuen Zielen, nach erweiterten Mitteln, nach verfeinertem Ausdruck in Ehren. Andererseits bin ich aber auch überzeugt, dass die rudimentären Experimente der wilden Futuristen Die Futuristen befassten sich in den 1910er Jahren u. a. mit experimentellem Instrumentenbau, wie etwa Luigi Russolo mit seinen „Geräuschtönern“. Zu Busonis ambivalenten Verhältnis zum Futurismus vgl. Busoni 1912 sowie die Kommentierung zu Leichtentritts Brief vom 23. Dezember 1913. eben nur ein Tappen im finsteren Raume sind, wenn nicht eine überlegene Persönlichkeit von klarster Einsicht in das zur Zeit Mögliche einen Sinn in das Chaos bringt, Zusammenhänge schafft, mit einem Worte: vollendet. Hinter den Vollendern müssen jedes Mal die Pioniere, die Anfangenden zurückstehen, die bloßen Skizzen taugen wenig für die Musik. Nun meine ich, dass es Ihnen vom Schicksal beschieden ist, gleichzeitig ein Neuerer und ein Vollender In seiner Busoni-Biographie hat sich Leichtentritt zwei Jahre später differenzierter zu Busoni als „Vollender“ geäußert: „Von Werk zu Werk ist ersichtlich, wie er seinem Ziel, eine neue Basis der Tonkunst zu finden, immer näher kommt. […] Mit einem leidenschaftlichen Eifer dringt er ins Unbekannte immer weiter vor […]. Er gehört nicht zu den Vollendern, sondern zu den Bahnbrechern“ (vgl. Leichtentritt 1916, S. 29 f.). zu sein, und dies ist der Grund meiner starken Anteilnahme an Ihren Schöpfungen. Ich bin so geartet, dass mir eine gewisse zeitliche Distanz eines Kunstwerks den künstlerischen Genuss erhöht, weil dann eben das Problematische, dem reinen Kunsteindruck Feindliche, schon verschwunden ist, das Zweckmäßige, Sinnvolle, der Zusammenhang, das Ganze aus einer gewissen Entfernung klarer hervortreten. Das Neue um jeden Preis interessiert mich nicht, ich will immer den Sinn, die Notwendigkeit der Neuerung sehen. Und ich finde, dass meine Ansichten vom vernünftigen Fortschritt, vom natürlichen Wachstum, von der gelassenen Ruhe des Notwendigen in Ihren Werken starke Belege finden. Ihr Concerto hat mich wahrhaft aufgerüttelt und entzückt, der Eindruck war so stark, dass mir am folgenden Abend die Freude am Parsifal Am 13. Februar 1914 (Wagners Todestag) wurde Parsifal im Charlottenburger Deutschen Opernhaus gespielt. Mit dem 1. Januar 1914 war der Urheberrechtsschutz des Parsifal in zahlreichen Ländern erloschen und das Werk damit – gegen den Willen der Erben Wagners – zur Aufführung außerhalb von Bayreuth freigegeben. Schon am Neujahrstag fanden national und international zahlreiche Erstaufführungen statt, so auch im Deutschen Opernhaus; das Berliner Königliche Opernhaus folgte mit täglichen Vorstellungen vom 5. bis 18. Januar 1914 (vgl. Berliner Tageblatt, 21.12.1913). Busoni hatte im Januar 1913 in der Vossischen Zeitung seine Meinung über den Urheberrechtsschutz des Parsifal und die Gegenwehr der Erben mitgeteilt: „Die geschäftlichen Rechte an den eigenen Werken über den Tod hinaus, dreißig Jahre weiter, und nun gar auf eine noch fernere Zukunft hin, sind mir unverständlich. Man gebe dem lebenden genialen Manne Geld, damit er schaffen könne; aber nicht Zinsen seinen Erben“ (vgl. Auerbach / Busoni et al. 1913). dadurch verdorben wurde, der mich übrigens in Vielem heftig enttäuscht hat. Ich sehe den weiteren Gaben, die Sie, verehrter Meister, uns in diesen Wochen schenken wollen, Busonis Konzertaufführungen eigener Werke am 16. und 27. Februar sowie 12. März 1914. mit der lebhaftesten Vorfreude entgegen und grüße Sie und Ihre werten Angehörigen herzlichst.

Ihr sehr ergebener

H. Leichtentritt.

                                                                
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[2] jetzt im Concerto ein Hauptwerk der ganzen
modernen Musik, und ich bin überzeugt, daß dies
Werk als ein Gipfelpunkt seiner Art leben
wird und noch unseren Nachkommen eine Quelle
des künstlerischen Genusses sein wird. In seiner Busoni-Biographie sieht Leichtentritt das Konzert als Abschluss des ersten Abschnitts im kompositorischen Schaffen Busonis: Es „zieht die Summe seines bisherigen Wirkens […], gibt aber vorausblickend schon viele Einsichten in die schon keimenden neuen Ideen“ (Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 45). Die wirklich
vollendeten Kunstwerke sind meiner Ansicht nach das⸗
jenige, was nicht altert und jedem Zeitalter etwas
zu sagen hat. Auch eine solche Vollendung, eine volle
Übereinstimmung zwischen Wollen und Können, einen
vollen, starken, geklärten EinAusdruck Ihrer Persönlichkeit
finde ich in diesem Werke. Ich bin ja überzeugt
davon, daß der Künstler immer vorwärts streben
muß, daß Ausruhen auf den früheren Triumphen
fast einem Zurückweichen gleichkommt. Daher alle Bestre⸗
bungen nach neuen Zielen, nach erweiterten Mitteln,
nach verfeinertem Ausdruck in Ehren. Andererseits
bin ich aber auch überzeugt, daß die rudimentären

                                                                
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Experimente der wilden Futuristen Die Futuristen befassten sich in den 1910er Jahren u. a. mit experimentellem Instrumentenbau, wie etwa Luigi Russolo mit seinen „Geräuschtönern“. Zu Busonis ambivalenten Verhältnis zum Futurismus vgl. Busoni 1912 sowie die Kommentierung zu Leichtentritts Brief vom 23. Dezember 1913. eben nur ein Tappen
im finsteren Raume sind, wenn nicht eine überlegene
Persönlichkeit von klarster Einsicht in das zur Zeit mögliche einen
Sinn in das Chaos bringt, Zusammenhänge schafft, mit einem
Worte vollendet. Hinter den Vollendern müssen jedesmal
die Pioniere, die Anfangenden zurückstehen, die bloßen Skizzen
taugen wenig für die Musik. Nun meine ich, daß es Ihnen
vom Schicksal beschieden ist, gleichzeitig ein Neuerer und ein
Vollender In seiner Busoni-Biographie hat sich Leichtentritt zwei Jahre später differenzierter zu Busoni als „Vollender“ geäußert: „Von Werk zu Werk ist ersichtlich, wie er seinem Ziel, eine neue Basis der Tonkunst zu finden, immer näher kommt. […] Mit einem leidenschaftlichen Eifer dringt er ins Unbekannte immer weiter vor […]. Er gehört nicht zu den Vollendern, sondern zu den Bahnbrechern“ (vgl. Leichtentritt 1916, S. 29 f.). zu sein, und dies ist der Grund meiner starken
Anteilnahme an Ihren Schöpfungen. Ich bin so geartet, daß mir
eine gewisse zeitliche Distanz eines Kunstwerks den künstlerischen
Genuß erhöht, weil dann eben das Problematische, dem
reinen Kunsteindruck fFeindliche, schon verschwunden ist, das Zweck⸗
mäßige, Sinnvolle, der Zusammenhang, das Ganze aus
einer gewissen Entfernung klarer hervortreten. Das Neue
um jeden Preis interessiert mich nicht, ich will immer
den Sinn, die Notwendigkeit der Neuerung sehen.
Und ich finde, daß meine Ansichten vom vernünftigen Nachlaß Busoni

                                                                
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Fortschritt, vom natürlichen Wachstum, von der gelassenen Ruhe
des Notwendigen in Ihren Werken starke Belege findet.
Ihr Concerto hat mich wahrhaft aufgerüttelt und entzückt, der
Eindruck war so stark, daß mir am folgenden Abend die Freude
am Parsifal Am 13. Februar 1914 (Wagners Todestag) wurde Parsifal im Charlottenburger Deutschen Opernhaus gespielt. Mit dem 1. Januar 1914 war der Urheberrechtsschutz des Parsifal in zahlreichen Ländern erloschen und das Werk damit – gegen den Willen der Erben Wagners – zur Aufführung außerhalb von Bayreuth freigegeben. Schon am Neujahrstag fanden national und international zahlreiche Erstaufführungen statt, so auch im Deutschen Opernhaus; das Berliner Königliche Opernhaus folgte mit täglichen Vorstellungen vom 5. bis 18. Januar 1914 (vgl. Berliner Tageblatt, 21.12.1913). Busoni hatte im Januar 1913 in der Vossischen Zeitung seine Meinung über den Urheberrechtsschutz des Parsifal und die Gegenwehr der Erben mitgeteilt: „Die geschäftlichen Rechte an den eigenen Werken über den Tod hinaus, dreißig Jahre weiter, und nun gar auf eine noch fernere Zukunft hin, sind mir unverständlich. Man gebe dem lebenden genialen Manne Geld, damit er schaffen könne; aber nicht Zinsen seinen Erben“ (vgl. Auerbach / Busoni et al. 1913). dadurch verdorben wurde, der mich übrigens in Vielem
heftig enttäuscht hat. Ich sehe den weiteren Gaben, die Sie
verehrter Meister uns in diesen Wochen schenken wollen Busonis Konzertaufführungen eigener Werke am 16. und 27. Februar sowie 12. März 1914. mit
der lebhaftesten Vorfreude entgegen und grüße Sie und Ihre
werten Angehörigen
herzlichst.

Ihr sehr ergebener

H. Leichtentritt.

                                                                
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doneStatus: candidate XML Facsimile Download / Cite

Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2762 | olim: Mus.ep. H. Leichtentritt 5 (Busoni-Nachl. B II) |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Collation
Seitenfolge: 1, 3, 4, 2 (2 im Querformat)
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Hugo Leichtentritt, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)

Summary
Leichtentritt gratuliert Busoni nach einer Aufführung des Konzerts für Klavier und Orchester C-Dur mit Männerchor: das Stück sei „ein Hauptwerk der ganzen modernen Musik“ und Busoni „gleichzeitig ein Neuerer und ein Vollender“; distanziert sich von den „wilden Futuristen“, plädiert für „vernünftigen Fortschritt“; ist von Wagners Parsifal „heftig enttäuscht“.
Incipit
Es drängt mich, nach dem außerordentlichen Genuss

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
November 14, 2020: candidate (coding checked, proofread)
Direct context
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