Philipp Jarnach to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Polling · August 2, 1920

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N.Mus.Nachl. 30, 116
Polling den 2. VIII. 1920.

Mein lieber, verehrter Meister!

Es sind gerade vierzehn Tage, dass ich
Sie, am Vorabend meiner Abreise, in
Zürich sah. Ich war an dem Abend
etwas unfroh und prosaisch, was Sie,
ich fürchte es, nur zu gut werden
bemerkt haben. Das hing aber nicht
mit den kleinen menschlichen Erfah⸗
rungen, die Ihnen zu erzählen ich
das Vergnügen hatte, zusammen, sondern
ich war bedrückt wegen der Augengeschichte
meiner Frau und der Aussicht, unter
diesen erschwerenden Umständen zu
reisen. – Inzwischen war Ursula, schon
nach einigen Tagen, vollständig geheilt,
und seitdem können wir uns ungestört
den ländlichen Freuden hingeben. –
Gegenwärtig liegt zwar der Wolfgang
im Bett, an den Masern erkrankt; er
hat sie aber nicht stark bekommen
und es geht ihm schon besser.

Polling, den 2.VIII.1920.

Mein lieber, verehrter Meister!

Es sind gerade vierzehn Tage, dass ich Sie, am Vorabend meiner Abreise, in Zürich sah. Ich war an dem Abend etwas unfroh und prosaisch, was Sie, ich fürchte es, nur zu gut werden bemerkt haben. Das hing aber nicht mit den kleinen menschlichen Erfahrungen, die Ihnen zu erzählen ich das Vergnügen hatte, zusammen, sondern ich war bedrückt wegen der Augengeschichte meiner Frau und der Aussicht, unter diesen erschwerenden Umständen zu reisen. – Inzwischen war Ursula, schon nach einigen Tagen, vollständig geheilt, und seitdem können wir uns ungestört den ländlichen Freuden hingeben. – Gegenwärtig liegt zwar der Wolfgang im Bett, an den Masern erkrankt; er hat sie aber nicht stark bekommen, und es geht ihm schon besser.

Bei schönem Wetter ist Polling ideal; die Umgebung bietet – in nächster Nähe – alle Abstufungen des Landschaftlichen; milde Hügelwellen beleben die Ebene, ohne den Horizont zu verkürzen, alle Linien fließen ineinander, wie grüne Arabesken. Wald und Wiesen gleichen einem unendlichen Park voll harmonischer Ruhe, Anmut und Stärke.

Senkt sich aber ein Wolkenvorhang auf das schöne Bild – und seit einer Woche geschieht es leider ziemlich oft –, so muss man etwas für seine Bildung tun. In einem solchen Augenblick entdeckte ich in einer sechzehnjährigen Nummer des „Simplicissimus“ die folgende Tiefsinnigkeit:

„Es gibt Schriftsteller, die die Tinte nicht halten können.“

Dass seitdem das Bildungsniveau der Journalisten sich nicht in dem Maße gehoben hat, wie man zu erwarten in unserer herrlichen Zeit berechtigt wäre, beweist wiederum und zum Beispiel dieser Satz – den ich einer in den Münchner Neuesten“ erschienenen Kritik über Mereschkowskji entnehme –:

„Was bedeutet ein Anatole France, was bedeutet sogar ein Romain Rolland, neben dem einzigen Dostojewski?“

Wie gefällt Ihnen das „sogar“?

Nein, die ästhetische „Ultima Ratio“ ist und bleibt ein Geheimnis. Man muss sich, mit Wilhelm Busch, mit der realen Erkenntnis begnügen:

„Musik wird oft nicht schön gefunden,
weil sie stets mit Geräusch verbunden.“ Wilhelm Busch, Der Maulwurf.

Entschuldigen Sie bitte diese Zitatenwut. Wir werden voraussichtlich am 1. September in Zürich sein. Kann ich hoffen, Sie dort noch zu finden, oder werden Sie schon vorher nach Berlin abreisen?

Wir würden uns sehr freuen, Nachrichten von Ihnen zu erhalten; ich schicke Ihnen anbei ein Bild des Bibliotheksaals im Hause meines Schwiegervaters; einige Fresken darin sind noch gut erhalten. Die Bücher aber sind alle nach München gewandert.

Herzlichste Grüße von uns beiden, auch an Frau Busoni.

Ihr treu ergebener

PHJ. Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).

Und warum nicht auch Musiker? Z. B. Othmar Ranudo?
                                                                
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Bei schönem Wetter ist Polling ideal; die
Umgebung bietet – in nächster Nähe –
alle Abstufungen des Landschaftlichen;
milde Hügelwellen beleben die Ebene, ohne
den Horizont zu verkürzen, alle Linien
fliessen ineinander, wie grüne Arabesken.
Wald und Wiesen gleichen einem unendlichen
Park voll harmonischer Ruhe, Anmut
und Stärke.

Senkt sich aber ein Wolkenvorhang auf
das schöne Bild – und seit einer Woche
geschieht es leider ziemlich oft, – so
muss man etwas für seine Bildung
tun. In einem solchen Augenblick ent⸗
deckte ich in einer sechzehnjährigen
Nummer des „Simplicissimus“ die fol⸗
gende Tiefsinnigkeit:

„Es gibt Schriftsteller(I) die die
Tinte nicht halten können.“

Dass seitdem das Bildungsniveau der
Journalisten sich nicht in dem Maasse
gehoben hat, wie man zu erwarten
in unserer herrlichen Zeit berechtigt

(I) Und warum nicht auch Musiker?
z. B. Othmar Ranudo?
                                                                
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wäre, beweist wiederum und zum Beispiel
dieser Satz – den ich einer in den Münchner
Neuesten“
erschienenen Kritik über Meresch⸗
kowskji
entnehme –:

„Was bedeutet ein Anatole France,
was bedeutet sogar ein Romain Rolland,
neben dem einzigen Dostojewski?“

Wie gefällt Ihnen das „sogar“?

Nein, die aesthetische „ultima ratio“ ist und
bleibt ein Geheimnis. Man muss sich, mit
Wilhelm Busch, mit der realen Erkenntnis
begnügen:

„Musik wird oft nicht schön gefunden,
„weil sie stets mit Geräusch verbunden.“ Wilhelm Busch, Der Maulwurf.

Entschuldigen Sie, bitte, diese Zitatenwut.
Wir werden voraussichtlich am 1. Sept. in
Zürich sein. Kann ich hoffen, Sie dort
noch zu finden, oder werden Sie schon
vorher nach Berlin abreisen?

Wir würden uns sehr freuen, Nachrichten
von Ihnen zu erhalten; ich schicke Ihnen
anbei ein Bild des Bibliotheksaals im
Hause meines Schwiegervaters; einige

                                                                
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Fresken darin sind noch gut erhalten. Die
Bücher aber sind alle nach München
gewandert.

Herzlichste Grüsse von uns beiden, auch
an Frau Busoni.

Ihr treu ergebener

PHJ. transcription uncertain. alternative reading:
PRJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).

Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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[Ansicht des Bibliotheksaals im Kloster Polling]
Ehemaliger Kloster=Bibliotheksaal
im Streicher’schen Hause zu Polling
F. Hofer, phot, Weilheim
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zu N.Mus.Nachl. 30, 116
Postkarte
Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="shelfmark" resp="#archive" place="top-left">zu N.Mus.Nachl. 30, 116</note>
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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,116 |

proof Kalliope

Condition
Brief und Ansichtskarte sind gut erhalten.
Extent
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Collation
Briefpapier im Querformat (aufgeklappter Bogen); Vorder- und Rückseite in je zwei Spalten beschrieben
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Summary
Jarnach berichtet den Krankenstand in seiner Familie; charakterisiert die Landschaft der Pollinger Umgebung; zitiert aus diversen Literaturkritiken sowie ein musikbezogenes Verspaar Wilhelm Buschs; hofft, bei seiner Rückkehr am 1. September Busoni noch in Zürich anzutreffen; legt eine Ansichtskarte des Bibliothekssaals seines Domizils im Kloster Polling bei.
Incipit
Es sind gerade vierzehn Tage, dass ich

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
January 8, 2021: candidate (coding checked, proofread)
Direct context
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