L Ph J Sie können Ssich
schwer vorstellen, wie
verführerisch schön
London ist, im Flrühling, im
Frieden, in Freiheit: denn es ist
wie gelöst nach dem Kriege; die
menschlichen Wünsche und Instinkte
wollen ihre Rechte; die Hypocrisie
der Victorianischen Zeit scheint
überwunden. Dazu die Unerschöpf-
lichkeit der Begebenheiten und
Erscheinungen, die Verlockungen
für jede Art Liebhaberei und
Geschmack; die wundersame
Einsamkeit im Gewühle: – und
wo man auch steht, steht man in
der Mitte, das Ende ist überall
gleich entfernt. – So geschaut ist
London unvergleichlich und
grenzenlos. – Wäre es auch eine
“Kunst”-Stadt, dann könnte
man es nicht ertragen! – Aber
ora incomincian le dolenti note
sagt Matteo.
Ferruccio Busoni to Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward
London · July 2, 1920
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N.Mus.Nachl. 30, 62 1
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L Ph J Sie können sich
schwer vorstellen, wie
verführerisch schön
London ist, im Frühling, im
Frieden, in Freiheit: Denn es ist
wie gelöst nach dem Kriege; die
menschlichen Wünsche und Instinkte
wollen ihre Rechte; die Hypokrisie
der Viktorianischen Zeit scheint
überwunden. Dazu die Unerschöpflichkeit der Begebenheiten und
Erscheinungen, die Verlockungen
für jede Art Liebhaberei und
Geschmack; die wundersame
Einsamkeit im Gewühle – und
wo man auch steht, steht man in
der Mitte, das Ende ist überall
gleich entfernt. – So geschaut, ist
London unvergleichlich und
grenzenlos. – Wäre es auch eine
„Kunst“-Stadt, dann könnte
man es nicht ertragen! – Aber
„ora incomincian le dolenti note“,
sagt Matteo.
Man hört auf, Künstler zu sein, als Künstler zu fühlen: Man ist wie der Sehende bei den Blinden, und schließlich – wie in jener Parabel von Wells – wird einem die Überzeugung aufgedrückt, dass die Blinden auf den Sehenden herabschauen, so paradox das ist. Die vornehmste und allgemein bestätigte Erscheinung ist, dass einem hier nichts einfällt: so übermächtig ist der Einfluss der Atmosphäre. Goethe hätte – in England – keine sämtlichen Werke hinterlassen. Hier ist alles fortwährend zu beginnen; es ist, als ob der Grund, den man legt, im Weiterbauen unter den Füßen wegschlüpfte. Wie soll der Einzelne standhalten? Und wie sollen zwei Hände die tausend Zipfel fassen? – Man gibt es bald auf – wie es auch ein jeder tut, der sich hier niederlässt. Das ist der Grund, warum ich London, das ich anbete und mich berauscht, nicht bewohne. Einige Male im Leben habe ich die Frage bei mir erwogen (eines davon war ich schon auf der Haussuche) – immer lehnte ich es schließlich ab. Dieses Russische Ballet ist jetzt, nach Wagner, die vollkommeneste Organisation geworden. Wie gewisse Infusorien (was weiß ich von Biologie!!) Teile von ihrem Körper abstoßen, welche dann selbständig weiterleben, so ist aus dem originalen Ballet russe eine hundertköpfige Institution entstanden, die überall zugleich arbeitet und Tausende von Menschen in ihre Interessen zieht; so dass jeder, dem man begegnet, irgendwie daran beteiligt ist. Musiker, Maler, Dichter, Finanzleute, Luxus, Geilheit, Strebertum – dies alles vereint sich in dieser Pseudo-Kunst-Manifestation, die schließlich nur ein Prätext für ganz andere Bestrebungen geworden ist. – Ein anständiger Kritiker schreibt über meinen Orchesterabend: Er bittet Herrn Busoni im Namen seiner Kollegen, es nicht als Unhöflichkeit zu betrachten, wenn sie sämtlich um 9 Uhr 10 den Saal verlassen mussten, um sich zum Russischen Ballet zu begeben! Der Abend war übrigens ein
sehr großer Erfolg. Aber All-Schluckendes London schluckte mir die
Hälfte davon weg – als wie
Giotto es mit den Mahlzeiten macht.
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Bald hoffe ich, Sie wiederzusehen,
weiter zu berichten und Berichte anzuhören. Etwa zum
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Man hört auf Künstler zu sein,
– Die vornehmste u. allgemein
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Pseudo-Kunst-Manifestation,
die schliesslich nur ein Pretext für ganz andere Bestrebungen geworden ist. – Ein anständiger Kritiker schreibt über meinen Orchester Abend: er bittet Hrn Busoni in Namen seiner Kollegen, es nicht als Unhöflichkeit zu betrachten, wenn sie sämtlich um 9 Uhr 10 den Saal verlassen mussten, um sich zum russischen Ballet zu begeben! – Der Abend war übrigens ein
– Bald hoffe ich Sie wiederzusehen
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Document
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Source
- Provenance
- Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,62 |
- Condition
- Der Brief ist gut erhalten.
- Extent
- 4 Blatt, 4 beschriebene Seiten
- Collation
- Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
- Hands/Stamps
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- Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
- Hand Gerda Busonis, die auf der Rückseite mit Bleistift das Datum notiert hat
- Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
- Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Content
- Summary
- Busoni beschreibt die Nachkriegsatmosphäre in London, das wegen seiner Vielfalt und grundstürzenden Dynamik keinen Boden für Kunstwerke biete; kritisiert die alles verschlingende Institutionalisierung der Ballets russes („Pseudo-Kunst-Manifestation“), zu denen die Rezensenten seines Konzerts vorzeitig abgewandert sind; kündigt Rückkehr nach Zürich für ca. 11. Juli an.
- Incipit
- “Sie können sich schwer vorstellen, wie verführerisch”
Edition
- Editors in charge
- Christian Schaper Ullrich Scheideler
- prepared by
- Revision
- January 8, 2021: candidate (coding checked, proofread)
- Direct context
- Preceding Following
- Near in this edition
-
Preceding Following
- Previous editions
- Beaumont 1987, S. 314 f.
Mentioned entities
- People
- Organizations
- Works
- Places