Hugo Leichtentritt an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Berlin · 28. September 1916

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Mus.ep. H. Leichtentritt 14 (Busoni-Nachl. B II)Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2771
[1]
Berlin W. Winterfeldt Str. 25a
d. 278. Sept. 1916.

Sehr verehrter Meister Busoni!

Es ist mir eine Freude, aus Ihrem Briefe
zu ersehen, daß mein kleines Büchlein über
Sie
Ihren Beifall findet. Leider fällt es in eine
sehr ungünstige Zeit und wird wohl kaum so
wirksam sein, wie ich wünschte, indes damit
muß man sich in diesen unruhigen Zeiten
abfinden. Sie schreiben, wie nahe Ihnen der Tod
von Boccioni geht. Ich sende Ihnen darüber einen
Ausschnitt aus der Vossischen Zeitung. Man hat
diesen Künstler hier sehr wenig gekannt. Wenn
es wahr ist, daß er zu den „eifrigsten Kriegs⸗
hetzern“
gehörte, so hat er in tragischer Weise
den italienischen Nationalwahnsinn gebüßt.
Wann wird endlich die Welt wieder einmal
zur Besinnung kommen? Von mir selbst kann
ich berichten, daß ich in genau zwei Monaten

Berlin W. Winterfeldtstr. 25a
den 28. September 1916.

Sehr verehrter Meister Busoni!

Es ist mir eine Freude, aus Ihrem Briefe zu ersehen, dass mein kleines Büchlein über Sie Ihren Beifall findet. Leider fällt es in eine sehr ungünstige Zeit und wird wohl kaum so wirksam sein, wie ich wünschte, indes damit muss man sich in diesen unruhigen Zeiten abfinden. Sie schreiben, wie nahe Ihnen der Tod von Boccioni geht. Ich sende Ihnen darüber einen Ausschnitt aus der Vossischen Zeitung. Man hat diesen Künstler hier sehr wenig gekannt. Wenn es wahr ist, dass er zu den „eifrigsten Kriegshetzern“ gehörte, so hat er in tragischer Weise den italienischen Nationalwahnsinn gebüßt. Wann wird endlich die Welt wieder einmal zur Besinnung kommen? Von mir selbst kann ich berichten, dass ich in genau zwei Monaten den „Sizilianer“ fertig komponiert habe. Ob ich zur Ausarbeitung der Partitur jetzt die nötige Muße finden werde, erscheint mir sehr zweifelhaft, weil demnächst eine neue Musterung meines Jahrgangs bevorsteht und ich nicht darauf rechnen kann, wiederum befreit zu werden. Leichtentritt trat am 2. Januar 1917 seinen Wehrdienst an (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 351). Zudem habe ich jetzt im Konservatorium viel zu unterrichten, in Vertretung von Philipp Scharwenka, der leider so schwer erkrankt ist, dass man kaum auf Genesung hoffen darf. Überdies beginnt auch die Konzertsaison wieder crescendo ed accelerando, It.: zunehmend und schneller werdend [mus.] so dass es mit den schönen Monaten der Muße und des Schaffens vorläufig wohl vorbei ist. Zum „Arlecchino“ gratuliere ich bestens und wünschte nur, diese neue Schöpfung bald kennen zu lernen. Ich habe auch eine Bitte an Sie. Schirmer in New York schuldet mir seit einem Jahr 100 Dollars. Durch die unterbrochene Postverbindung erreicht mich ein Brief aus Amerika nur sehr selten, und ein Check überhaupt nicht. Wenn der Check an Sie gesandt würde und Sie ihn mir hersenden würden, so wäre vielleicht eine Möglichkeit, dass er in meine Hände kommt. Da demnächst eine mir bekannte Dame nach Amerika reist, so würde sie eine dementsprechende Botschaft bei Schirmer’s überbringen, vorausgesetzt, dass Sie einverstanden sind.

Umberto Boccioni †. Am 17. August ist Umberto Boccioni, 34 Jahre alt, Tatsächlich starb Boccioni im Alter von 33 Jahren; auch die im Folgenden genannten Eigennamen (Cievo, Filippo Tommaso Marinetti) enthalten Fehler. als Artillerist in der italienischen Armee durch Sturz vom Pferde bei Chiero ums Leben gekommen. Boccioni gehörte mit F. I. Marinetti zu den Führern der Futuristen und hat sich durch die Mitautorschaft des futuristischen Manifestes sowie durch seine Tätigkeit als Bildhauer, Maler und Schriftsteller einen Namen gemacht. Ernst genommen wurde er allerdings nur von wenigen. Seit Beginn des Krieges war Boccioni einer der eifrigsten Kriegshetzer in Italien. Er hat das Wort vom „Krieg, der einzigen Hygiene der Welt“ geprägt Filippo Tommaso Marinetti gilt als Begründer des Futurismus, einer avantgardistischen Bewegung mit Ursprung in Italien. 1909 veröffentlichte er das Futuristische Manifest, in dem er den gewaltsamen Bruch mit allem Althergebrachten fordert. So heißt es in dem Manifest unter anderem: ‚Wir wollen den Krieg verherrlichen – die einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes‘ (Übersetzung nach Apollonio 1972, S. 34). Boccioni schloss sich der Bewegung an und brachte 1910 das ‚Manifest der futuristischen Maler‘ heraus, in dem er zusammen mit anderen Künstlern zur Innovation in der Kunst aufruft und die Loslösung vom traditionellen Kunstbetrieb fordert. und hat mit seinem Gesinnungsgenossen Marchetti Gemeint: Marinetti? zusammen in Mailand und anderen italienischen Großstädten an der Interventionistenbewegung hervorragenden Anteil gehabt. Seine Bildhauereien sind vor dem Krieg auch in Deutschland wiederholt gezeigt worden. Boccioni war von Geburt Calabrese.
Der Artikel erschien am 7. September in der Morgenausgabe der Vossischen Zeitung (vgl. N. N. 1916b).

Es grüßt Sie und Ihre Angehörigen herzlichst

Ihr sehr ergebener

H. Leichtentritt.

                                                                
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[2] den „Sizilianer“ fertig komponiert habe. Ob ich zur
Ausarbeitung der Partitur jetzt die nötige Muße
finden werde, erscheint mir sehr zweifelhaft, weil
demnächst eine neue Musterung meines Jahr⸗
gangs bevorsteht und ich nicht darauf rechnen
kann, wiederum befreit zu werden. Leichtentritt trat am 2. Januar 1917 seinen Wehrdienst an (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 351). Zudem
habe ich jetzt im Konservatorium viel zu unter⸗
richten, in Vertretung von Philipp Scharwenka,
der leider so schwer erkrankt ist, daß man
kaum auf Genesung hoffen darf. Überdies be Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

ginnt auch die Konzertsaison wieder crescendo
ed accellerando, It.: zunehmend und schneller werdend [mus.] so daß es mit den schönen Mo⸗
naten der Muße und des Schaffens vorläufig
wohl vorbei ist. Zum „Arlecchino“ gratuliere
ich bestens und wünschte nur diese neue Schöp⸗
fung bald kennen zu lernen. Ich habe auch
eine Bitte an Sie. Schirmer in New York schuldet
mir seit einem Jahr hundert Dollars. Durch
die unterbrochene Postverbindung erreicht mich
ein Brief aus Amerika überhaupt nichtnur sehr selten, und
ein Check überhaupt nicht. Wenn der Check

                                                                
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Deutsche
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Berlin
an Sie gesandt würde und Sie ihn mir hersenden würden, so wäre
vielleicht eine Möglichkeit, daß er in meine Hände kommt. Da
demnächst eine mir bekannte Dame nach Amerika reist, so
würde sie eine dementsprechende Botschaft bei Schirmer’s […] 1 Zeichen: überschrieben. überbringen,
vorausgesetzt, daß Sie einverstanden sind[.]

B II, 2771a Umberto Boccioni †. Am 18. August ist Umberto Boc⸗
cioni
, 34 Jahre alt, Tatsächlich starb Boccioni im Alter von 33 Jahren; auch die im Folgenden genannten Eigennamen (Cievo, Filippo Tommaso Marinetti) enthalten Fehler. als Artillerist in der italienischen Armee
durch Sturz vom Pferde bei Chiero ums Leben gekommen. Boc⸗
cioni
gehörte mit F. I. Marinetti zu den Führern der Futu⸗
risten und hat sich durch die Mitautorschaft des futuristischen
Manifestes, sowie durch seine Tätigkeit als Bildhauer, Maler und
Schriftsteller einen Namen gemacht. Ernst genommen wurde er
allerdings nur von wenigen. Seit Beginn des Krieges war Boc⸗
cioni
einer der eifrigsten Kriegshetzer in Italien. Er hat das Wort
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Berlin

vom „Krieg, der einzigen Hygiene der Welt“ geprägt Filippo Tommaso Marinetti gilt als Begründer des Futurismus, einer avantgardistischen Bewegung mit Ursprung in Italien. 1909 veröffentlichte er das Futuristische Manifest, in dem er den gewaltsamen Bruch mit allem Althergebrachten fordert. So heißt es in dem Manifest unter anderem: ‚Wir wollen den Krieg verherrlichen – die einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes‘ (Übersetzung nach Apollonio 1972, S. 34). Boccioni schloss sich der Bewegung an und brachte 1910 das ‚Manifest der futuristischen Maler‘ heraus, in dem er zusammen mit anderen Künstlern zur Innovation in der Kunst aufruft und die Loslösung vom traditionellen Kunstbetrieb fordert. und hat mit
seinen Gesinnungsgenossen Marchetti Gemeint: Marinetti? zusammen in Mailand und
anderen italienischen Großstädten an der Interventionistenbewegung
hervorragenden Anteil gehabt. Seine Bildhauereien sind vor dem
Krieg auch in Deutschland wiederholt gezeigt worden. Boccioni
war von Geburt Calabrese.
Der Artikel erschien am 7. September in der Morgenausgabe der Vossischen Zeitung (vgl. N. N. 1916b).

Es grüßt Sie und Ihre Angehörigen herzlichst

Ihr sehr ergebener

H. Leichtentritt.

                                                                
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4Diplomatische Umschrift
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[Rückseite von Textseite 2]
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5Diplomatische Umschrift
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[Berlin W]
30.9.16.6-7V. Transkription unsicher: wenig Tinte.
* 30 d
Herrn
Prof. Ferruccio Busoni.
Deutsche [
Staatsbibliothek
Berlin]
Zürich
Scheuchzer Str. 36.
Schweiz.
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6Diplomatische Umschrift
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Zü[rich]
-4.X.16 XI
Brf. Exp.
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2771-Beil.
Mus.ep. H. Leichtentritt 14
Nachlaß Busoni B II
                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2771+2771a | olim: Mus.ep. H. Leichtentritt 14 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
1 Bogen, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Seitenfolge: 1, 3, 2 (3 im Querformat)
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Hugo Leichtentritt, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Beistift eingetragen hat.
  • Hand des Archivars, der die Foliierung mit Bleistift vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift eingetragen hat.
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
  • aufgeklebter Zeitungsausschnitt, Fraktursatz
Foliierungen
  • Foliierung durch das Archiv, mit Bleistift oben rechts auf den Vorderseiten.

Zusammenfassung
Leichtentritt ist erfreut, dass die Biographie auf Busonis Anerkennung stößt; schickt Todesanzeige Boccionis aus der Vossischen Zeitung; hat den Sizilianer (ohne Partitur) fertig komponiert; erwartet erneute Musterung; vertritt Philipp Scharwenka am Konservatorium; gratuliert zum Arlecchino; bittet Busoni, einen Check von Schirmer für ihn postalisch entgegenzunehmen.
Incipit
Es ist mir eine Freude, aus Ihrem Briefe zu ersehen

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
14. November 2020: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition