Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Polling · 10. August 1920

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N.Mus.Nachl. 30, 117

Mein lieber, verehrter Meister!

Der Freude, die ich empfand, als mir Ihr
Brief
übergeben wurde, folgte eine kleine Ent⸗
täsuchung; denn ich fand in ihm nicht ganz
den gewohnten, herzlichen Klang. Daran ist
vielleicht, wie Sie mir leise andeuten, mein
eigenes Schreiben
schuld: das kann ich nicht
gut beurteilen. Ich glaube, Sie trauen immer
noch nicht ganz der Beständigkeit meiner
menschlichen und künstlerischen Gesinnung,
Ihnen gegenüber; damit muss ich mich wohl
abfinden, und es der Zeit überlassen, Ihre
Meinung hierüber zu festigen. Auch bin ich
nicht so unbescheiden, Ansprüche auf Ihre
Gefühle zu erheben. Weiss ich doch, dass
wir immer wieder zusammenkommen
werden, – auf Gebieten „interdits au

Mein lieber, verehrter Meister!

Der Freude, die ich empfand, als mir Ihr Brief übergeben wurde, folgte eine kleine Enttäsuchung; denn ich fand in ihm nicht ganz den gewohnten, herzlichen Klang. Daran ist vielleicht, wie Sie mir leise andeuten, mein eigenes Schreiben schuld: das kann ich nicht gut beurteilen. Ich glaube, Sie trauen immer noch nicht ganz der Beständigkeit meiner menschlichen und künstlerischen Gesinnung, Ihnen gegenüber; damit muss ich mich wohl abfinden und es der Zeit überlassen, Ihre Meinung hierüber zu festigen. Auch bin ich nicht so unbescheiden, Ansprüche auf Ihre Gefühle zu erheben. Weiß ich doch, dass wir immer wieder zusammenkommen werden – auf Gebieten „interdits au vulgaire.“ Frz.: „den Niederen untersagt“ bzw. „den Gewöhnlichen unzugänglich“.

Ich danke Ihnen für den Hinweis auf Bekkers Aufsatz; ich werde ihn mir verschaffen. Dieser Mann ist voller Widersprüche. Im Grunde ist er vielleicht ein Dogmatiker; aber manchmal schießt er plötzlich ins Freie und wird dann äußerst interessant; seine intuitive Begabung bringt ihn oft auf die rechte Spur. Er wird vielleicht dazu kommen, den Soziologen und Literaten in sich zu besiegen – wenn er die Idee der „gesellschaftsbildenden Kräfte“ nebst anderen überlieferten und selbstkonstruierten Begriffen ein für allemal aufgibt.

Ich muss Ihnen noch berichten, dass ich diese Tage die Partitur von „Romeo und Julia“ durchlas. Es ist dies vielleicht das struppigste von allen mir bekannten Werken Berlioz’. Widerliche Grobheiten gibt es darin. Aber die dichterische Vision ist von so ungeheuerer Kraft, dass ich davon vollständig betäubt wurde. Ich habe da etwas Erschütterndes erlebt, das umso unerwarteter kam, als ich vom Prolog so gar nicht erbaut war. Es sind im Wesentlichen vier Sätze: Von den insgesamt sieben Sätzen nennt Jarnach die Nummern 3, 4, 5 und 7. Der Garten Capulets, – Königin Mab, – Der Grabgesang und das Finale, die mir diesen tiefen Eindruck machten, und zwar in steigender Linie. Wie kommt es, dass ich früher taub war für diese unerhörte Kunst? Es ist alles so unmittelbar, so synthetisch und von so grandioser Sicherheit in den einmal gewählten Ausdrucksformen! Trotz aller altmodischen Wendungen, trotz aller erborgten Mittel ist dieser Mann der absoluten Freiheit näher gekommen als alle anderen. Und ein solches Übermaß an Empfindung war in ihm, dass man nicht begreift, wie es ihn nicht schon als Knabe zerrissen hat. Unbegreiflicher ist es allerdings, dass man fortfährt, Wagner und Brahms als die Propheten des XIX. Jahrhunderts hinzustellen. Und das ist eine weniger beglückende Konstatierung. Alles ist besser als dieses unerträgliche, feige, dickwanstige Eunuchentum, und selbst die wilde Arena, von der Sie sprechen, ist ein Paradies dagegen; es ist doch wenigstens eine Möglichkeit vorhanden, dass frische Luft hereinströmt!

Die herzlichsten Grüße von uns beiden, auch an Frau Busoni

Ihr PHJ. Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).

Polling, den 10.VIII.1920
                                                                
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vulgaire.“ Frz.: „den Niederen untersagt“ bzw. „den Gewöhnlichen unzugänglich“.

Ich danke Ihnen für den Hinweis auf Bekkers
Aufsatz; ich werde ihn mir verschaffen. Dieser
Mann ist voller Widersprüche. Im Grunde ist er
vielleicht ein Dogmatiker; aber manchmal
schiesst er plötzlich ins Freie und wird dann
äusserst interessant; seine intuitive Begabung
bringt ihn oft auf die rechte Spur. Er wird
vielleicht dazu kommen, den Soziologen und
Literaten in sich zu besiegen, – wenn er die
Idee der „gesellschaftsbildenden Kräfte“, nebst
anderen überlieferten und selbstkonstruierten
Begriffen ein für allemal aufgibt.

Ich muss Ihnen noch berichten, dass
ich diese Tage die Partitur von „Romeo
und Julia“
durchlas. Es ist dies vielleicht das
struppigste von allen mir bekannten Werke[n]
Berlioz’. Widerliche Grobheiten gibt es darin.
Aber die dichterische Vision ist von so unge⸗
heuerer Kraft, dass ich davon vollständig

                                                                
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betaübt wurde. Ich habe da etwas Erschüttern⸗
des erlebt, das um so unerwarteter kam
als ich vom Prolog so gar nicht erbaut war.
Es sind im Wesentlichen vier Sätze: Von den insgesamt sieben Sätzen nennt Jarnach die Nummern 3, 4, 5 und 7. Der Garten
Capulets
, – Königin Mab, – Der Grabgesang
und das Finale, die mir diesen tiefen Ein⸗
druck machten, und zwar in steigender Linie.
Wie kommt es, dass ich früher taub war
für diese unerhörte Kunst? Es ist alles so
unmittelbar, so synthetisch und von so gran⸗
dioser Sicherheit in den einmal gewählten
Ausdrucksformen! Trotz aller altmodischen
Wendungen, trotz aller erborgten Mittel ist
dieser Mann der absoluten Freiheit näher
gekommen als alle anderen. Und ein solches
Uebermass an Empfindung war in ihm,
dass man nicht begreift, wie es ihn nicht
schon als Knabe zerrissen hat.
Unbegreiflicher ist es allerdings, dass man
fortfährt, Wagner und Brahms als die

                                                                
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Und das ist eine weniger beglückende Konsta⸗
tierung. Alles ist besser als dieses unerträgliche,
feige, dickwanstige Eunuchentum, und selbst
die wilde Arena von der Sie sprechen, ist
ein Paradies dagegen; es ist doch wenigstens
eine Möglichkeit vorhanden, dass frische
Luft hereinströmt!

Die herzlichsten Grüsse von uns beiden,
auch an Frau Busoni

Ihr
PHJ. Transkription unsicher. Alternative Lesart:
PRJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).

Polling, den 10–VIII. 1920
Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,117 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Starke Verfärbungen (Wasserschaden?), ohne Textverlust; sonst gut erhalten.
Umfang
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Kollation
Seitenfolge: 2, 3, 4, 1
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach vermutet Zweifel Busonis an der „Beständigkeit meiner menschlichen und künstlerischen Gesinnung“; schildert seine Eindrücke von Paul Bekker; ist von der Partiturlektüre von Berlioz’ Roméo et Juliette begeistert.
Incipit
Der Freude, die ich empfand, als mir

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
21. Oktober 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition