Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Polling · 10. April 1921

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Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 124
Polling, 7–10 April 1921

Mein lieber Freund und Meister!

Empfangen Sie meinen allerherzlichsten Dank
für die liebe Freundestat Ihrer Empfehlung an
den Fürsten Fürstenberg. Im Sommer 1921 fanden die Donaueschinger Musiktage zum ersten Mal statt. Der Fürst Maximilian Egon zu Fürstenberg finanzierte die Kammermusiktage, stellte die Räumlichkeiten und war Mitglied des Programmausschusses. Ihre Weisung befolgend
habe ich gestern ein Quintettexemplar nach
Donaueschingen abgeschickt. Busoni war Mitglied des Ehrenausschusses der Donaueschinger Musiktage und empfahl der Jury u. a. Jarnachs Streichquintett op. 10, das zur Aufführung angenommen wurde (vgl. Weiss 1996, S. 133). – Ich bin ganz
erfreut zu hören, dass Sie schon Anfang Mai
zurückgekehrt sein werden und hoffe, dass
dieser Brief Sie noch vor der Abreise erreicht. Im April 1921 spielte Busoni für fünf Konzerte in Rom (vgl. Couling 2005, S. 330).
Wir erhielten kürzlich durch Frl. Simon gute
Nachrichten von Ihnen; ich kann Ihnen gar
nicht sagen, wie ich mich darauf freue, die
Opern
in Berlin zu hören, und mit Ihnen zu
hören! Die Berliner Erstaufführungen der Opern Turandot und Arlecchino fanden am 19. Mai 1921 als Doppelvorstellung in der Staatsoper statt. Insgesamt gab es fünf Vorstellungen im Mai und Juni 1921 (vgl. Beaumont 1987, S. 335, Anm. 4; Busoni/Weindel 2015, S. 1136, Anm. 41).

Wir denken einige Tage vor dem 20. in
Berlin zu sein, denn ich möchte ein paar
Quintettproben mitmachen. Der Abschied von
Zürich war einfach und kurz. Wir gingen
in den letzten Tagen einige Male zu Biolleys,
die sehr lieb mit uns waren. Andreae schien
betrübt, die meisten aber erstaunt und be-

Polling, 7.–10. April 1921

Mein lieber Freund und Meister!

Empfangen Sie meinen allerherzlichsten Dank für die liebe Freundestat Ihrer Empfehlung an den Fürsten Fürstenberg. Im Sommer 1921 fanden die Donaueschinger Musiktage zum ersten Mal statt. Der Fürst Maximilian Egon zu Fürstenberg finanzierte die Kammermusiktage, stellte die Räumlichkeiten und war Mitglied des Programmausschusses. Ihre Weisung befolgend, habe ich gestern ein Quintett-Exemplar nach Donaueschingen abgeschickt. Busoni war Mitglied des Ehrenausschusses der Donaueschinger Musiktage und empfahl der Jury u. a. Jarnachs Streichquintett op. 10, das zur Aufführung angenommen wurde (vgl. Weiss 1996, S. 133). – Ich bin ganz erfreut zu hören, dass Sie schon Anfang Mai zurückgekehrt sein werden, und hoffe, dass dieser Brief Sie noch vor der Abreise erreicht. Im April 1921 spielte Busoni für fünf Konzerte in Rom (vgl. Couling 2005, S. 330). Wir erhielten kürzlich durch Frl. Simon gute Nachrichten von Ihnen; ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich darauf freue, die Opern in Berlin zu hören, und mit Ihnen zu hören! Die Berliner Erstaufführungen der Opern Turandot und Arlecchino fanden am 19. Mai 1921 als Doppelvorstellung in der Staatsoper statt. Insgesamt gab es fünf Vorstellungen im Mai und Juni 1921 (vgl. Beaumont 1987, S. 335, Anm. 4; Busoni/Weindel 2015, S. 1136, Anm. 41).

Wir denken einige Tage vor dem 20. in Berlin zu sein, denn ich möchte ein paar Quintettproben mitmachen. Der Abschied von Zürich war einfach und kurz. Wir gingen in den letzten Tagen einige Male zu Biolleys, die sehr lieb mit uns waren. Andreae schien betrübt, die meisten aber erstaunt und befremdet darüber, dass man, als Künstleraufenthalt, irgendeine andere Stadt Zürich vorziehen konnte. Manche waren sehr kühl, und einige, glaube ich, freuen sich.

Ich freue mich auch. – Obgleich ich nie vergessen oder unterschätzen werde, was mir der – fast siebenjährige! – Aufenthalt in Zürich Wertvolles und Schönes gebracht hat. Liebe Freunde lassen wir dort, die uns in schwierigen Zeiten halfen, und dort wurde mir das Glück, Sie kennen zu lernen. – Aber das Fortgehen war uns wie eine Befreiung.

Ich lese jetzt die „Brautwahl“, und der anfängliche Eindruck, von dem ich Ihnen sprach, steigert sich von Szene zu Szene. Das Werk ist absolut rund und ganz, von einer verwirrenden Fülle der Einfälle, die aber alle mit fabelhafter Präzision ausgearbeitet sind und einander ergänzen, dergestalt, dass, trotz textlicher Ausführlichkeit, nirgends der Eindruck des „Durchkomponierten“ aufkommt. Im Gegenteil: dieser Musik ist der Text immer knapp angemessen und „sitzt“. Nichts Überflüssiges, übergroße Diskretion des Gefühls neben flammender Heftigkeit der Charakteristik, eine meisterhafte Bühnenschöpfung! Für Inszenator und Darsteller allerdings eine schwere, vielleicht ebenso schwere Aufgabe wie „Figaro“ und „Don Giovanni“. – Es gilt, wie im Figaro, den Ton eines ganz bestimmten Zeitstiles zu treffen und zu wahren, ohne Individualitätsunterschiede irgendwie im Typenhaften erstarren zu lassen (eine Gefahr, die für die Regie des „Arlecchino“ nicht existiert, da dort alle Figuren als absichtlich grelle Typen an der Peripherie eines einzigen Persönlichkeitszentrums – Arlecchino – stehen); und, wie im Don Giovanni, das immer stärker hereinbrechende phantastische Element und die groteske Reaktion des materialistischen Milieus darauf mit ernsthafter Realistik zu behandeln. (Sie erinnern sich vielleicht, wie wir einmal davon sprachen, dass realistische Genauigkeit das notwendige Ziel alles phantastischen Spieles sei?) Dazu bietet Ihr Textbuch die schönste Möglichkeit; wie unsre Opernregiekunst aber steht, sind befriedigende Lösungen vorläufig nur als Ausnahmen zu erwarten. Ein fähiger Inszenator für die Brautwahl wäre – vielleicht – der Opernhistoriker Ernst Lert, dessen Buch Mozart auf dem Theater“ mir ein trotz mancher Übertreibung sehr wertvolles Werk zu sein scheint. Dieser Mann zerstört von vornherein die seit Wagner herkömmliche Regietradition, indem er Stil und Bewegung der Darstellung in erster Linie aus der Musik herleitet und den Text nur nach der Art seiner Auslegung seitens des Komponisten verstanden wissen will. Was damit erreicht werden kann, zeigt er mit seinen – beschriebenen und illustrierten – Inszenierungen der Mozart’schen Opern.

Verzeihen Sie das lange Geschwätz, das, ich fürchte, für Sie gar nicht aktuell ist. Aber bedenken Sie, dass ich erst soeben die Bekanntschaft der „Brautwahl“ machte und an ihr eine große Freude erlebte, Freude und vielfältige Anregung. Darüber konnte ich nicht schweigen.

Ich arbeite jetzt wieder an meinem heiteren Satz. Eine Zuordnung zu Jarnachs fragmentarischen Sinfonischen Skizzen wird durch den Papierbefund nahegelegt (vgl. Weiss 1996, S. 415).

Auf baldiges Wiedersehen, mein lieber Meister. Grüßen Sie, bitte, Frau Busoni vielmals von uns, und seien Sie selbst herzlichst gegrüßt von Amalie-Ursula und Ihrem treu ergebenen

Philipp Jarnach

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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fremdet darüber, dass man, als Künstleraufenthalt,
irgendeine andre Stadt Zürich vorziehen konnte.
Manche waren sehr kühl und einige, glaube ich,
freuen sich.

Ich freue mich auch. – Obgleich ich nie vergessen
oder unterschätzen werde, was mir der – fast
siebenjährige! – Aufenthalt in Zürich, Wertvolles
und Schönes gebracht hat. Liebe Freunde lassen
wir dort, die uns in schwierigen Zeiten halfen,
und dort wurde mir das Glück, Sie kennen
zu lernen. – Aber das Fortgehen war uns wie
eine Befreiung.

Ich lese jetzt die „Brautwahl“ und der anfängliche
Eindruck, von dem ich Ihnen sprach, steigert
sich von Szene zu Szene. Das Werk ist absolut
rund und ganz, von einer verwirrenden Fülle
der Einfälle, die aber alle mit fabelhafter
Präzision ausgearbeitet sind und einander
ergänzen, dergestalt dass, trotz textlicher Ausführ-
lichkeit, nirgends der Eindruck des „Durch-
komponierten“
aufkommt. Im Gegenteil:
dieser Musik ist der Text immer knapp
angemessen und „sitzt“. Nichts Ueberflüssiges,
übergrosse Diskretion des Gefühls neben
flammender Heftigkeit der Charakteristik, Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

                                                                
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eine meisterhafte Buhnenschöpfung! Für Inszenator
und Darsteller allerdings eine schwere, vielleicht
ebenso schwere Aufgabe wie „Figaro“ und „Don
Giovanni“
. – Es gilt, wie im Figaro, den Ton eines
ganz bestimmten Zeitstiles zu treffen und zu wah-
ren, ohne Individualitätsunterschiede irgendwie
im Typenhaften erstarren zu lassen, (eine Gefahr
die für die Regie des „Arlecchino“ nicht existiert,
da dort alle Figuren als absichtlich grelle Typen
an der Peripherie eines einzigen Persönlichkeits-
zentrums – Arlecchino – stehen;) und wie im
Don Giovanni, das immer stärker hereinbre-
chende phantastische Element und die groteske
Reaktion des materialistischen Milieus darauf
mit ernsthafter Realistik zu behandeln. (Sie er-
innern sich vielleicht, wie wir einmal davon
sprachen, dass realistische Genauigkeit das not-
wendige Ziel alles phantastischen Spieles sei?)
Dazu bietet Ihr Textbuch die schönste Möglichkeit;
wie unsre Opernregiekunst aber steht, sind be-
friedigende Lösungen vorläufig nur als Aus-
nahmen zu erwarten. Ein fähiger Inszenator für
die Brautwahl wäre – vielleicht – der Opern-
historiker Ernst Lert, dessen Buch: Mozart auf
dem Theater“
mir ein trotz mancher Übertreibung

                                                                
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sehr wertvolles Werk zu sein scheint. Dieser Mann
zerstört von vornherein die seit Wagner herkömm-
liche Regietradition, indem er Stil u. Bewegung
der Darstellung in erster Linie aus der Musik
herleitet und den Text nur nach der Art seiner
Auslegung seitens des Komponisten verstanden
wissen will. Was damit erreicht werden kann,
zeigt er mit seinen – beschriebenen und illustrier-
ten – Inszenierungen der Mozart’schen Opern.

Verzeihen Sie das lange Geschwätz, das, ich
fürchte, für Sie gar nicht aktuell ist. Aber
bedenken Sie, dass ich erst soeben die Bekannt-
schaft der „Brautwahl“ machte, und an ihr
eine grosse Freude erlebte, Freude und viel-
fältige Anregung. Darüber konnte ich nicht
schweigen.

Ich arbeite jetzt wieder an meinem heiteren
Satz
. Eine Zuordnung zu Jarnachs fragmentarischen Sinfonischen Skizzen wird durch den Papierbefund nahegelegt (vgl. Weiss 1996, S. 415).

Auf baldiges Wiedersehen, mein lieber Meister.
Grüssen Sie, bitte, Frau Busoni vielmals von
uns, und seien Sie selbst herzlichst gegrüsst
von Amalie-Ursula und Ihrem treu ergebenen

Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

Philipp Jarnach

                                                                
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Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,124 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
2 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach hat sein Quintett für die Donaueschinger Musiktage eingereicht; freut sich darauf, mit Busoni dessen Opern in Berlin zu hören; blickt auf seine Zürcher Zeit zurück und berichtet von den Abschiedstagen; äußert sich ausführlich zur Faktur von Busonis Brautwahl sowie zur Inszenierungsaufgabe, „den Ton eines ganz bestimmten Zeitstiles zu treffen“; befürwortet den musikorientierten Regiestil Ernst Lerts; arbeitet an einem heiteren Satz.
Incipit
Empfangen Sie meinen allerherzlichsten Dank für die liebe Freundestat

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
29. April 2022: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition