Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni arrow_forward

Halensee-Berlin · 15. Januar 1910

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Mus.ep. L. Rubiner 1 (Busoni-Nachl. B II)
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4260
Halensee-Berlin, d. 15.I.1910.
Johann Georgstr. 24.

Hochverehrter Herr!

Ich erlaube mir, Ihnen meinen
Aufsatz Rubiner verfasste einen Aufsatz mit dem Titel Ferruccio Busonis Musikästhetik, welcher in der Zeitschrift Der Demokrat (2. Jahrgang, 06. Juli 1910, Nummer 28) erschien. über Ihre Musik-Aesthe-
tik
zu übersenden. Hoffentlich
missfällt er Ihnen nicht all-
zusehr. Von einem so furcht-
bar aufregenden Buch konnte
ich nur in der allerkühlsten Form
sprechen.
Mein Aufsatz hat demagogische Ab-
sichten, das gebe ich offen zu. Das
heisst, er soll den Kreisen ge-
bildeter Nichtmusiker anre-
gende Stimmung für die Lektü-
re geben. Bei den wirklichen Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Halensee-Berlin, d. 15.I.1910.
Johann-Georg-Straße 24.

Hochverehrter Herr!

Ich erlaube mir, Ihnen meinen Aufsatz Rubiner verfasste einen Aufsatz mit dem Titel Ferruccio Busonis Musikästhetik, welcher in der Zeitschrift Der Demokrat (2. Jahrgang, 06. Juli 1910, Nummer 28) erschien. über Ihre Musik-Ästhetik zu übersenden. Hoffentlich missfällt er Ihnen nicht allzusehr. Von einem so furchtbar aufregenden Buch konnte ich nur in der allerkühlsten Form sprechen. Mein Aufsatz hat demagogische Absichten, das gebe ich offen zu. Das heißt, er soll den Kreisen gebildeter Nichtmusiker anregende Stimmung für die Lektüre geben. Bei den wirklichen Musikern ist ja doch Hopfen und Malz verloren. Ich bin also bei Fragen, die Ihnen vielleicht praktisch als wichtiger erscheinen werden, z.B. den harmonischen Problemen, nicht ins Detail gegangen. Ich habe das allerwesentlichste, menschlich und künstlerisch wichtigste Motiv – von dem sich übrigens auch alle anderen fest mathematisch ableiten lassen – herausgegriffen, und an ihm die symptomatische Bedeutung des Buches gezeigt. Rubiner schreibt in seinem Aufsatz: Busonis Deutung geht vom Subjekt aus. Er nimmt die Musik als Gegebenes“, und er gebe „mit dem Begriff des Organischen dem Musikwerk eine neue Deutung mit unendlichen Folgerungen“. Dabei seien die persönlichen Erfahrungen des Komponisten, dem „Schaffenden“, keine „Wesensbestandteile des Kunstwerkes“. Dies, wenn Sie wollen, zur Entschuldigung.

Im Übrigen ist Ihr Buch das einzig lesenswerte, das ich über Musik kenne. Für deutsche Verhältnisse ist es leider viel zu gut und zu interessant geschrieben. Da heut in Deutschland die Musik als soziologischer Faktor eine grausam überschätzte Kunst ist, gibt es viel zu viel Musiker von Fach. Alle Leute mit Gummikragen und schmutzigen Fingern laufen heut mit der Partitur zum "Heldenleben" herum, und die meisten können dieses document réactionnaire Franz. für „konservatives/fortschrittsfeindliches Werk“ auch lesen. Infolgedessen kann niemand mehr anständiges Deutsch lesen, oder anständiges Französisch oder Italienisch, sondern bloß mit blöden Augen Musik machen. Es wäre sehr schön, wenn ein bedeutender Mann einiges zur Diskreditierung der Musik und der Musiker unternähme, damit die verblödeten Leute mal merken, wenn wirklich was menschlich Bedeutsames geschieht. Dies ist meine Privatmeinung, die ich mir erlaubte Ihnen mitzuteilen, da ich für musikalische Angelegenheiten sonst nicht die geringsten Ambitionen habe.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr sehr ergebener Ludwig Rubiner.

                                                                
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Malz verloren. Ich bin also bei
Fragen, die Ihnen vielleicht praktisch
als wichtiger erscheinen werden,
z.B. den harmonischen Problemen,
nicht ins Detail gegangen. Ich
habe das allerwesentlichste, mensch-
lich und Künstlerisch wichtigste
Motiv – von dem sich übrigens
auch alle anderen fest mathema-
tisch ableiten lassen – herausgegrif-
fen, und an ihm die sympto-
matische Bedeutung des Buches
gezeigt. Rubiner schreibt in seinem Aufsatz: Busonis Deutung geht vom Subjekt aus. Er nimmt die Musik als Gegebenes“, und er gebe „mit dem Begriff des Organischen dem Musikwerk eine neue Deutung mit unendlichen Folgerungen“. Dabei seien die persönlichen Erfahrungen des Komponisten, dem „Schaffenden“, keine „Wesensbestandteile des Kunstwerkes“. Dies, wenn Sie wollen,
zur Entschuldigung.

Im übrigen ist Ihr Buch
das einzig lesenswerte, das ich

                                                                
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über Musik kenne. Für deutsche
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zu gut, und zu interessant
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land die Musik als soziologischer
Faktor eine grausam über-
schätzte Kunst ist, giebt es
viel zu viel Musiker von Fach.
Alle Leute mit Gummikragen
und schmutzigen Fingern laufen
heut mit der Partitur zum
Heldenleben herum, und die
meisten können dieses
document réactionnaire Franz. für „konservatives/fortschrittsfeindliches Werk“ auch
lesen. Infolgedessen kann niemand
mehr anständiges Deutsch lesen,
oder anständiges Französisch oder

                                                                
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Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Italienisch, sondern bloss mit
blöden Augen Musik machen.
Es wäre sehr schön, wenn ein
bedeutender Mann einiges zur
Diskreditierung der Musik
und der Musiker unternähme,
damit die verblödeten Leute
mal merken, wenn wirklich
was menschlich Bedeutsames
geschieht. Dies meine Privat-
meinung, die ich mir erlaubte Ih-
nen mitzuteilen, da ich für musi-
kalische Angelegenheiten sonst
nicht die geringsten Ambitionen
habe.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr sehr ergebener
Ludwig Rubiner.

                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4260 | olim: Mus.ep. L. Rubiner 1 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Foliierungen
  • Foliierung durch das Archiv, mit Bleistift oben rechts auf den Vorderseiten.
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Zusammenfassung
Rubiner übersendet Busoni seinen Aufsatz über dessen Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst; kritisiert die vorherrschenden Verhältnisse der deutschen Musikszene.
Incipit
Ich erlaube mir, Ihnen meinen Aufsatz über Ihre Musik-Aesthetik zu übersenden.

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
6. April 2018: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Folgend
Benachbart in der Gesamtedition