Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Muralto · 13. Mai 1918

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Mus.ep. L. Rubiner 24
(Busoni-Nachl. B II)

Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4283
[1]
Deutsche
Staatsbiblitohek
Berlin
13. Mai 1918.

Lieber und Verehrter!

Aus Ihrem letzten Brief ersehe
ich, dass Sie meinen vorletzten, den
ich am Freitag d. 26. April direkt in
die Scheuchzerstrasse schrieb, der enstsprechende Brief ist jedoch ist vom 27. April 1918 datiert. nicht
erhalten haben. In diesem Briefe
hatte ich Ihnen geschrieben ich –
kann es heute nur in dürren Worten
wiederholen – wie mir Ihre Bemerkung
über den Bau des Faust mit einem
Schlage das ganze Werk vollkommen
licht eröffnet habe; und wie mir
das Bild, das Sie fanden, um den
Bau auszudrücken, weil es aus
Ihrer eigenen jahrelangen, letzten
Kunsterfahrung und aus Ihrem
eigenen Erleben genommen war,
mir in einem Moment allseitig
dieses Werk erschlossen habe;̫

13. Mai 1918.

Lieber und Verehrter!

Aus Ihrem letzten Brief ersehe ich, dass Sie meinen vorletzten, den ich am Freitag den 26. April direkt in die Scheuchzerstraße schrieb, der enstsprechende Brief ist jedoch ist vom 27. April 1918 datiert. nicht erhalten haben. In diesem Briefe hatte ich Ihnen geschrieben ich – kann es heute nur in dürren Worten wiederholen – wie mir Ihre Bemerkung über den Bau des Faust mit einem Schlage das ganze Werk vollkommen licht eröffnet habe; und wie mir das Bild, das Sie fanden, um den Bau auszudrücken, weil es aus Ihrer eigenen jahrelangen, letzten Kunsterfahrung und aus Ihrem eigenen Erleben genommen war, mir in einem Moment allseitig dieses Werk erschlossen habe;̫ während bisher jahrelange Deduktionen mich nicht überzeugt hätten. ̫ Dass Sie diesen Brief nicht bekamen, schlie ße ich auch aus einem gewissen Erstaunen über ein Wort meines letzten Briefes, wie nahe Sie mir nun den Faust gebracht hätten. Ja, Sie haben mich wirklich sehend gemacht, und ich stimme in der Betrachtung des Faust vollkommen überein, aus keinem anderen Grunde, als, weil es genau so ist, wie Sie schreiben! ̫

Obwohl nun jener verlorene Brief keine eigentliche Antwort herausforderte, war ich doch sehr beunruhigt über Ihr langes Schweigen; ich dachte nicht daran, dass er verloren gegangen sein konnte, und nahm zuletzt an, es seien Zürich Dinge vorgefallen, die Sie am Schreiben hinderten. Das war glücklicherweise ein Hirngespinst von mir, wie ich jetzt zeigte.

Von mir, dem eingefleischtesten und unausrottbarsten Gro ßstädter, ist es natürlich ein wilder Gewaltstreich mi Dass die Korrektur durch einen Bleistift vorgenommen wurde, lässt sich vermuten, dass sie von Busoni entstand. „inert“ der DorfstadtHöhle Locarnozu verkriechen, mir um hier meine Arbeit ganz zu „erstellen“. Das ist nur erträglich, weil ich doch manchmal auf der Stra ße einige italienische Stra ßengesichter, einige Stra ßenbewegungen sehe. Aus meinem Fenster sah ich neulich einen herrlichen Streit mit an, der mit dem Schlachtschrei: „Vacca“ ins Deutsche ist das Wort als „Kuh“ oder „Hure“ zu übersetzen ! begann, während doch in Zurigo die italienische Bezeichnung für Zürichzunächst, aus einem dicken Bauch nur das unterirdische Gemurmel: „Chaib vermutlich ist das Wort „Cheib“ gemeint, welches öfter als Chaib vorkommt und im Schwäbischen und Schweizerischen mundartlich für „Lump“ und „gemeiner Kerl“ steht. ! hervorrollen würde. Übrigens scheint mir Giottoheute um seinen Schweizer Aufenthalt beneidenswert zu sein. Wir andern platzen!̬

Ascona ist nicht nur der heilige Berg der Naturmenschen, sondern der Ort auch, an dem sich die spezifisch ganz impotenten Künstler der Welt angesiedelt haben. Einer, dessen höchstbegabten Bruder ich aus Deutschland kenne, hatte mir einmal nach Zürichgeschrieben. Ich konnte nicht umhin, auch war er und sein Mädchen sympathisch. In tiefstem Ekel (und mit Recht strömenden Regen) wanderte ich wieder nach Locarno. So gro ße Theorien haben sie alle, und so kleine Werkchen. Und eine Erscheinung, die ich schon seit Jahren los zu sein und nicht mehr wieder zu treffen hoffte, stand funkelnagelneu wieder da: Die Künstler etc. belegen ihre Angelegenheit mit – Kant!

Es war ein wildes und albernes Charabia ins Deutsche ist das Wort als „Kauderwelsch“ zu übersetzen. . Beweisen wollen etc. etc. Und die Ehrlichkeit und natürliche Offenheit brach sich erst in einer heimlich versteckten Frage Bahn, als mir einer zuraunte:„Glauben Sie, ob die Schweiz in den Krieg kommt?“Es war das erste menschliche Wort.–Ein anderer vom heiligen Hügel erzählte mir wutschnaubend von dem Theosophen Steiner, dessen Schüler undIntimus er sechs Jahre lang gewesen war.„So ein Schurke, so ein Schuft, und überhaupt seine erotischen Angelegenheiten!“„?“„Denken Sie, dieser Mensch hat mit Hülfe der schwarzen Magie vielen Frauen, die ihm anbeten, auf dem Astralplan, Astralkinder gemacht!“ Die Frau des gro ßen Eingeweihten, der mir diese äu ßerst frivole Enthüllung machte, sa ßohne Wimperzucken dabei. Ihr Astralplan kam nicht in Frage.

Außerordentlich eindrucksvoll klärend und überzeugend ist Ihr konstruktiver Querschnitt durch den Faust. Ich hätte einen Vorschlag, den ich nicht für ganz falsch halte. Wenn man nun noch diese beiden wichtigen Parallelen einfügte: Hexenküche – Mütter. In beiden nämlich die Verwandlung und Wiedergeburt. In der Hexenküche die persönliche Verjüngung; bei den Müttern die ewige Regeneration.

Zweygberg, zwischen seinem Gartenbau und dem Hintereinanderspiel von sämtlichen Bachischen Cellosuiten, brachte den Abend bei mir zu und sagte mir, dass Huberihm begeistert über die Wälder von Solothurngeschrieben habe.

Ich las den einzig guten Aufsatz,den ich je über Rodin gelesen habe (wenn auch der noch zu lyrisch) von Élie Faure. Wollen Sie ihn haben?

Nächtlicher Blick in den Gulliver. Swift hat noch viel toller prophezeit, als alle anderen Propheten. Sogar astronomische Entdeckungen (mit genauen Angaben) vorweg. Und das gleichmütig, es für nicht achtend, und mit der höhnischesten Ironie.

Gewiss, jedes Land hat seine Boches. Frz. (abwertend): Deutschen. Aber dass man sich auf Kant bezieht, um seine Jugendstilbilder (mit Expressionisten-Sauve) zu entschuldigen: c’est très boche.

Zwei neue, ekelerregende Worte sind das einzige Resultat dieses Krieges: Mentalität, und Defaitismus. – Ah, abbasso la stupidità! (Nachklang von Ascona.) –

Ich falle in Ihre Arme

Ihr Ludwig Rubiner.

                                                                
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2 während bisher jahrelange
Deduktionen mich nicht über-
zeugt hätten. ̫ Dass Sie diesen
Brief nicht bekamen, schlie sse
ich auch aus einem gewissen
Erstaunen über ein Wort meines
letzten Briefes, wie nahe Sie mir
nun den Faust gebracht hätten.
Ja, Sie haben mich wirklich
sehend gemacht, und ich
stimme in denr All Betrachtung
des Faust vollkommen überein,
aus keinem anderen Grunde,
als, weil es genau so ist, wie
Sie schreiben! ̫

Obwohl nun jener verlorene
Brief keine eigentliche Antwort
herausforderte, war ich doch
sehr beunruhigt über Ihr
langes Schweigen; ich dachte nicht
daran, dass er verloren gegangen
sein konnte, und nahm

                                                                
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3 zuletzt an, es seien Zürich
Dinge vorgefallen, die Sie am
Schreiben hinderten. Das war
glücklicherweise ein Hirngespinst
von mir, wie ich jetzt zeigte.

Von mir, dem eingefleischtesten
und unausrottbarsten Gro ssstädter,
ist es natürlich ein wilder Gewalt-
streich mit ch Dass die Korrektur durch einen Bleistift vorgenommen wurde, lässt sich vermuten, dass sie von Busoni entstand. „inert“ der Dorfstadt-
Höhle Locarnozu verkriechen,
mir um hier meine Arbeit ganz
zu „erstellen“. Das ist nur erträglich,
weil ich doch manchmal auf
der Stra sse einige italienische Stra ssen-
gesichter, einige Stra ssenbewegungen
sehe. Aus meinem Fenster sah
ich neulich einen herrlichen
Streit mit an, der mit dem
Schlachtschrei: „Vacca“ ins Deutsche ist das Wort als „Kuh“ oder „Hure“ zu übersetzen ! begann,
während doch in Zurigo die italienische Bezeichnung für Zürichzunächst,
aus einem dicken Bauch nur
das unterirdische Gemurmel:

                                                                
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4 „Chaib vermutlich ist das Wort „Cheib“ gemeint, welches öfter als Chaib vorkommt und im Schwäbischen und Schweizerischen mundartlich für „Lump“ und „gemeiner Kerl“ steht. ! hervorrollen würde.
Übrigens scheint mir Giottoheute
um seinen Schweizer Aufenthalt
beneidenswert zu sein. Wir andern platzen!̬

Ascona ist nicht nur der heilige
Berg der Naturmenschen, sondern
der Ort auch, an dem sich die
specifisch ganz impotenten Künstler
der Welt angesiedelt haben. Einer,
dessen höchstbegabten Bruder ich aus
Deutschland kenne, hatte mir einmal
nach Zürichgeschrieben. Ich konnte
nicht umhin, auch war er und sein
Mädchen sympathisch. In tiefstem Ekel
(und mit Recht strömenden Regen)
wanderte ich wieder nach Locarno.
So gro sse Theorien
haben sie alle, und so kleine Werkchen. Und
eine Erscheinung, die ich schon seit
Jahren los zu sein und nicht
mehr wieder zu treffen hoffte,
stand funkelnagelneu wieder
da: Die Künstler etc. belegen Ihre
Angelegenheit mit – Kant!

Es war ein wildes und

                                                                
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B II, 4283
5 albernes Charabia ins Deutsche ist das Wort als „Kauderwelsch“ zu übersetzen. . Beweisen
wollen etc. etc. Und die Ehrlich-
keit und natürliche Offenheit
brach sich erst in einer heimlich
versteckten Frage Bahn, als mir
einer zuraunte:„Glauben Sie,
ob die Schweiz in den Krieg kommt?“
Es war das erste menschliche
Wort.–Ein anderer vom heiligen
Hügel erzählte mir wutschnaubend
von dem Theosophen Steiner, dessen
Schüler u.Intimus er sechs
Jahre lang gewesen war.„So ein Schurke, so ein Schuft, und
überhaupt seine erotischen Ange-
legenheiten!“
„?“„Denken Sie,
dieser Mensch hat mit Hülfe der
schwarzen Magie vielen Frauen,
die ihm anbeten, auf dem Astral-
plan, Astralkinder gemacht!“

Die Frau des gro ssen Eingeweihten, der
mir diese äu sserst frivole Enthüllung
machte, sa ssohne Wimperzucken
dabei. Ihr Astralplan kam nicht in Frage.

                                                                
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Ausserordentlich
eindrucksvoll klärend
und überzeugend ist Ihr
konstruktiver Querschnitt
durch den Faust. Ich hätte
einen Vorschlag, den ich nicht
gfür ganz falsch halte. Wenn
man nun noch diese beiden
wichtigen Parallelen einfügte:
Hexenküche – Mütter.
In beiden nämlich die Verwandlung
und Wiedergeburt. In der Hexenküche die persönliche Ver-
jüngung; bei den Müttern die
ewige Regeneration.

Zweygberg, zwischen seinem Gartenbau
und dem Hintereinanderspiel von
sämtlichen Bachischen Cellosuiten,
brachte den Abend bei mir zu
und sagte mir, dass Huberihm
begeistert über die Wälder von Solothurngeschrieben habe.

                                                                
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Ich las den einzig guten
Aufsatz,den ich je über Rodin
gelesen habe (wenn auch der
noch zu lyrisch) von Élie Faure. Wollen Sie ihn haben?

Nächtlicher Blick in den
Gulliver. Swift hat noch viel
toller prophezeit, als alle anderen
Propheten. Sogar astronomische
Entdeckungen (mit genauen Angaben)
vorweg. Und das gleichmütig, es
für nicht achtend, und mit
der höhnischesten Ironie.

Gewiss, jedes Land hat seine
Boches. Frz. (abwertend): Deutschen. Aber dass man sich auf
Kant bezieht, um seine Jugendstil-
bilder (mit Expressionisten-Sauve) zu
entschuldigen: c’est très boche.

Zwei neue, ekelerregende Worte sind das
einzige Resultat dieses Krieges: Menta-
lität, und Defaitismus. – Ah, abassu la stupidità! (Nachklang von Ascona.) –

Ich falle in Ihre Arme

Ihr Ludwig Rubiner.

                                                                
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10Diplomatische Umschrift
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Mus.Nachl. F. Busoni B II,4283-
Beil.
Nachlaß Busoni B II
Mus.ep. L. Rubiner 24
Zürich 1
13 V 1918 -11
Briefträger II
Rubiner
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
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Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4283 | olim: Mus.ep. L. Rubiner 24 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten; auf der Vorderseite des Umschalges,die mit Busonis Adresse versehen ist, befindet sich Tintenflecke
Umfang
3 Bogen, 7 beschriebene Seiten
Kollation
[Rückseite,links des 3. Bogens, vacat]
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Vmtl. Hand des Empfängers Ferruccio Busoni, der auf der Umschlagrückseite die Zuordnung
  • Rubiner
  • mit Bleistift notiert hat.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12345678910

Zusammenfassung
Rubiner stellt fest, dass sein vorletzter Brief Busoni nicht erreicht hat. Er fasst jenen Brief zusammen; drückt seine Unzufriedenheit in der Stadt Locarno aus.
Incipit
Aus Ihrem letzten Brief ersehe ich

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
1. März 2018: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition