Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward

Zürich · 20. Juni 1917

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N.Mus.Nachl. 30, 14
1
20 Juni
1917

Mein lieber
Philippos Jarnaculus,

ich erhalte so eben Ihren Brief, Dieser Brief ist offenbar nicht erhalten.
der mich an sich erfreut; noch
mehr aber verheisst durch das
Hindeuten auf Inhalt und Art
des noch nicht eingetroffenen
Buches chinesischen Ursprungs.
– Bis es eintrifft halte ich
diese Zeilen noch zurück. Bei Beaumont 1987 (261) ist der Briefbeginn bis hierhin ausgelassen. Trotz
Ihrer geistvollen Auslegungen
möchte ich Sie davor warnen,
im Sinne von Pfitzner’s Kom-
mentatoren eine
„Weltanschauung“
in Musik setzen zu wollen.
Aufrichtig gesprochen, so habe ich
diesen Begriff nie ganz erfasst;
noch weniger, dass Musik ihn
ausdrücken koenne.

20. Juni 1917

Mein lieber Philippos Jarnaculus,

ich erhalte soeben Ihren Brief, Dieser Brief ist offenbar nicht erhalten. der mich an sich erfreut; noch mehr aber verheißt durch das Hindeuten auf Inhalt und Art des noch nicht eingetroffenen Buches chinesischen Ursprungs. – Bis es eintrifft, halte ich diese Zeilen noch zurück. Trotz Ihrer geistvollen Auslegungen möchte ich Sie davor warnen, im Sinne von Pfitzners Kommentatoren eine „Weltanschauung“ in Musik setzen zu wollen. Aufrichtig gesprochen, so habe ich diesen Begriff nie ganz erfasst; noch weniger, dass Musik ihn ausdrücken könne.

„Die Barbaren“ (so sagt mein Abbate in des Arlecchinos erster Fassung) „sind das Volk der Musik und der Philosophie“. – Wenn Sie aber diese beiden durcheinanderwerfen, dann entsteht jene graue Kunst, die als Musik den Musikern, als Philosophie den Philosophen nicht genügt (dafür aber umgekehrt). Menschenleben und Menschenlieben, als wie Beethoven zum Darstellungsziel der Musik bevorzugte, erfüllen schön das Ethische in den Tönen: „Traumzustände“ im Gegensatz zur „Daseinsnorm“. Dies steht dem Wesen unserer Kunst schon ferner: Denn ist Musik nicht schon traumhaft an sich und immer wirklich durch ihr eigenes Klingen? – (Auf Wiedersehen nach empfangener Buchsendung.)

Nachmittag

Nun habe ich mir das erste Stück durchgelesen, das vollendet schön erzählt ist; über dessen Dramatisierung ich mir aber erst nach reiferer Verdauung klar werden kann. Es schweben mir indessen Möglichkeiten vor, auf das Eingehen derer ich mich im Voraus freue. Busonis Libretto Das Wandbild basiert auf diesem gleichnamigen ersten Text in der hier verwendeten Auswahlübersetzung des Liaozhai Zhiyi von Pu Songling.

Inzwischen grüße ich Sie herzlich und wünsche Ihnen freudiges Arbeiten. Auch ich versuche dergleichen, jedoch: Aller Anfang ist (immer wieder) schwer.

Alles Schöne an die Ihren und das Nachbarhaus.

Ihr Sie umarmender F Busoni

20. Juni 1917
                                                                
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N.Mus.Nachl. 30, 14
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„Die Barbaren“ (so sagt mein Abbate
in des Arlecchino’s erster Fassung)
„sind das Volk der Musik und
„der Philosophie“
. – Wenn Sie
aber diese beiden durcheinander
werfen, dann entsteht jene
graue Kunst, die als Musik
den Musikern, als Philosophie
den Philosophen nicht genügt.
(dafür aber umgekehrt.)
Menschenleben u. Menschenlieben,
als wie Beethoven zum Darstellungs
ziel der Musik bevorzugte, Bei Beaumont 1987 (262) im Sinn abweichend übersetzt mit: „To live for and to love humanity, which was Beethoven’s chosen goal, fulfils the ethical requirements of the notes“.
erfüllen schön das Ethische
in den Toenen: „Traumzustaende[“]
im Gegensatz zur
„Daseinsnorm“
Dies steht dem Wesen unserer Kunst
schon ferner: denn ist Musik
nicht schon traumhaft an sich
und immer wirklich durch
ihr eigenes Klingen? – Bei Beaumont 1987 (262) ist ab hier der Rest des Briefes ausgelassen. (Auf
Wiedersehen nach empfangenemr
Buchsendung.)

                                                                
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Nachmittag

Nun habe ich mir das erste
Stück durchgelesen, das vollendet
schön erzählt ist; über dessen
Dramatisierung ich mir aber
erst nach reiferer Verdauung
klar werden kann. Es
schweben mir indessen
Möglichkeiten vor, auf
das Eingehen derer ich
mich im Voraus freue. Busonis Libretto Das Wandbild basiert auf diesem gleichnamigen ersten Text in der hier verwendeten Auswahlübersetzung des Liaozhai Zhiyi von Pu Songling.

Inzwischen grüsse ich
Sie herzlich und wünsche
Ihnen freudiges Arbeiten.
Auch ich versuche der-
gleichen, jedoch: Aller
Anfang ist (immer wieder)
schwer.

Alles Schöne an die Ihren
u. das Nachbarhaus.

Ihr Sie umarmender
F Busoni

20. Juni 1917
                                                                
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Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,14 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Hand Gerda Busonis, die auf der Rückseite von Blatt 2 und 3 mit Bleistift das Datum notiert hat
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456

Zusammenfassung
Busoni erwartet und erhält eine von Jarnach angekündigte Sammlung chinesischer Erzählungen; will deren erste dramatisieren (Das Wandbild); warnt Jarnach vor der Vertonung einer „Weltanschauung“ als eines Durcheinanders von Musik und Philosophie.
Incipit
ich erhalte soeben Ihren Brief, der mich

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
29. Oktober 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Beaumont 1987, S. 261 f.