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N.Mus.Nachl. 30, 137
Mein lieber, verehrter Freund! – Vor einigen Tagen
ging das Gerücht, Sie seien zurückgekehrt,
was sich leider als falsch erwies. Da ich sonst
von niemandem etwas, Sie betreffend, erfuhr,
und nicht weiß, wie lange wir Sie noch ent- behren müssen, schreibe ich Ihnen nach Paris
auf das Risiko hin, daß Sie von dort schon
abgereist seien. – Ihren Brief habe ich seinerzeit
richtig erhalten u. danke Ihnen dafür. Inzwischen
hatte ich Gelegenheit, ein neues Quartett von
Hindemith zu hören, das in seiner großen
Schwäche u. Dürftigkeit der Erfindung – das
vorangegangene Klarinettenquintett war ebenfalls
sehr schlecht, – Ihr strenges Urteil zu recht- fertigen scheint. Zugeben muß ich zum mindesten,
daß die ursprüngliche Begabung Hindemiths in
keinem Verhältnis zu seiner forcierten Produk- tion steht u. daß von einer Entwicklung bis
jetzt nicht viel zu merken ist. Bedenklich ist,
was er schreibt, u. seine Selbstzufriedenheit. –
Die Ratlosigkeit und Verwirrung haben übrigens
auch in der Kunst einen Höhepunkt erreicht und
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Mein lieber, verehrter Freund!
Vor einigen Tagen
ging das Gerücht, Sie seien zurückgekehrt,
was sich leider als falsch erwies. Da ich sonst
von niemandem etwas, Sie betreffend, erfuhr
und nicht weiß, wie lange wir Sie noch entbehren müssen, schreibe ich Ihnen nach Paris
auf das Risiko hin, dass Sie von dort schon
abgereist seien. – Ihren Brief habe ich seinerzeit
richtig erhalten und danke Ihnen dafür. Inzwischen
hatte ich Gelegenheit, ein neues Quartett von
Hindemith zu hören, das in seiner großen
Schwäche und Dürftigkeit der Erfindung – das
vorangegangene Klarinettenquintett war ebenfalls
sehr schlecht – Ihr strenges Urteil zu rechtfertigen scheint. Zugeben muss ich zum mindesten,
dass die ursprüngliche Begabung Hindemiths in
keinem Verhältnis zu seiner forcierten Produktion steht und dass von einer Entwicklung bis
jetzt nicht viel zu merken ist. Bedenklich ist,
was er schreibt, und seine Selbstzufriedenheit. –
Die Ratlosigkeit und Verwirrung haben übrigens
auch in der Kunst einen Höhepunkt erreicht, und
man hat Mühe, sich dieser chaotischen Welle zu erwehren.
Marktschreierische Scharlatane verkünden mit Prophetengebärde
das Herannahen allmächtiger kosmischer Kunst, andere
leugnen die Möglichkeit auch nur bescheidensten Aufstiegs
und schwören mit Spengler, Tristan sei der Schlussakkord
überhaupt gewesen.
Vgl. Spengler 1918, S. 393: „Im Tristan stirbt die letzte der faustischen Künste. Dies Werk ist der riesenhafte Schlußstein der abendländischen Musik.“
Tröstend ruft einer dazwischen: „Soll
man an einer Zeit verzweifeln, die einen Brahms, einen
Hugo Wolf und einen Humperdinck hervorgebracht?“
Man müsste allerdings, wenn uns nur lauter Humperdincks auf der einen und Kreneke auf der andern Seite
bevorstünden. Doch will man besser denken vom unvergänglichen Formungstriebe des Menschen: Die Welt kann
doch noch Jahrtausende bestehen; ist es da wahrscheinlich, dass sie nie mehr Besseres zustande bringt als die
schäbigen Hanswurstiaden heuriger Pleite? – Ich möchte Sie
etwas ergötzen: Ein Rezitationsabend wird angekündigt
unter der Aufschrift:
Chaos – Eros – Kosmos.
Drei Vortragsabende mit Lesungen zu jeweils einem der Titelworte (23. November 1923, 16. Januar 1924, 5. März 1924; vgl. die Ankündigungen im Führer durch die Konzertsäle Berlins 4 (1923): Heft 8, S. [2] (Digitalisat); Heft 15, S. [2] (Digitalisat); Heft 22, S. [6] (Digitalisat).
Ein neues Buch „Schicksal der Musik“ äußert sich
über Mozart wie folgt: „Bei Mozart ist die Melodik gegen Bach unendlich entwertet, verflacht, die
Harmonik noch ohne dramatische Funktion und
doch nicht mehr architektonisch, die Rhythmik
nicht steigernd, nicht bauend, das leere Stoßen
des Taktschemas noch wenig überwölbend. Alles
ist ein Nicht-mehr der alten und ein Noch-nicht der neuen
Form, ein Schweben im Sturz. Nicht wesentlich
ist es für die Beurteilung Mozarts, wie er sich zur Oper verhält: seine Begegnung mit ihr war nur zufällig.“
Jarnach zitiert nicht aus dem Buch selbst, sondern eine streckenweise wörtlich paraphrasierende Rezension (Die Musik 16 [1923/1924], Nr. 2, November 1923, S. 120, Digitalisat); vgl. die zugehörigen Passagen des Originals (Wolff/Petersen 1923, S. 185 f.).
Eigentlich ist das alles aber nicht zum Lachen. Paradoxalen
Irrsinn kann man nicht mehr gelassen hinnehmen, er
überflutet alles, und die Abwehr kostet Kraft. Die geistige
Verworrenheit unsrer Zeit bekommt ein Gesicht von
bestialischer Hässlichkeit; einfaches Fühlen wird in beängstigendem Maße eliminiert, und nicht einmal der
Mangel einer Form wird als solcher mehr empfunden.
Nur tiefstem Gefühl ist die konkrete Oberfläche der Form
unentbehrlich (so sagt ungefähr Blei im „Rokoko“).
Dieser (oder ein ähnlicher) Satz Franz Bleis findet sich weder in Die Sitten des Rokoko noch in Der Geist des Rokoko, wohl aber Passagen zu einer Form gewordenen Tiefe und Intensität aus alter Zeit (Blei 1921, S. V f.) sowie zur formauflösenden Wirkung des Gefühlsausdrucks jüngerer Zeiten (Blei 1923, S. 147, 243 f.).
Heute
also hat man keine Form nötig. Dieses Ungeheuerliche
ist den meisten eine Selbstverständlichkeit. – Angesichts
dessen muss unser Optimismus darin bestehen, Verfall
und Auflösung als die sichersten Anzeichen einer kommenden Renaissance zu denken, einer Renaissance im
Busoni’schen Sinne. Dieser Geist ist es, der schließlich
siegen wird. Und das „Wann“ ist von nur relativer
Wichtigkeit. – Um Sie wird der Streit nicht entbrennen: Ihr Werk hat schon gesiegt, aber nur an
und für sich, im einzelnen Falle; die Konsequenz
ist daraus nicht gezogen, der innere Wille des
Werkes noch nicht erkannt. Dazu ist eine Zeit nicht
fähig, die sich ihrer eigenen Willenlosigkeit nicht einmal
bewusst ist. Und Ihre einstige Äußerung: „jeder Erfolg ist
im Grunde ein Missverständnis“ bewahrheitet sich auch
an Ihnen.
Um den sakrosankten Egoismus nicht zu verschleiern:
ich hoffe, einige Fortschritte gemacht zu haben, und möchte
nun, um die Erfahrungen meines Quartetts reicher,
darangehen, diese Erfahrungen durch neue Arbeiten
zu mehren. Unsere langwierige Installierung hat bis
jetzt gedauert, und eine ruhige Stunde war oft
tagelang nicht zu haben; vielleicht war diese gezwungene Pause nicht ungünstig. – In Berlin scheint
sich die Lage zu bessern, wenigstens ist die allgemeine Stimmung nicht mehr so bedrückt. Sagen
Sie mir bitte, ob wir Sie bald erwarten dürfen,
und wie es Ihnen geht; ich war noch nie so
lange ohne Nachrichten von Ihnen!
Allerherzlichste
Grüße, auch an Frau Busoni, von Ursula und
Ihrem in treuer Freundschaft ergebenen
PHJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).
PS Im Begriff, diesen Brief aufzugeben, höre ich, dass Ihre
Ankunft diese Woche erwartet wird, zerreiße also mit Freude
den ersten Umschlag und adressiere Viktoria-Luisenplatz; werde
Sie auch gleich besuchen. Auf baldiges Wiedersehen! D.O.
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<addrLine><placeName key="E0500803"><placeName key="E0500029">Berlin</placeName>-Südende</placeName></addrLine>
<addrLine><placeName key="E0500802">Tempelhoferstr. 12 a</placeName></addrLine>
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<lb/>Die Ratlosigkeit und Verwirrung haben übrigens
<lb/>auch in der Kunst einen Höhepunkt erreicht<reg>,</reg> und
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man hat Mühe, sich dieser chaotischen Welle zu erwehren.
Marktschreierische Charlatane verkünden mit Prophetengebärde
das Herannahen allmächtiger kosmischer Kunst, andere
leugnen die Möglichkeit auch nur bescheidensten Aufstiegs
und schwören mit Spengler, Tristan sei der Schlußakkord
überhaupt gewesen.
Vgl. Spengler 1918, S. 393: „Im Tristan stirbt die letzte der faustischen Künste. Dies Werk ist der riesenhafte Schlußstein der abendländischen Musik.“
Tröstend ruft einer dazwischen: „Soll
man an einer Zeit verzweifeln, die einen Brahms, einen
Hugo Wolf und einen Humperdinck hervorgebracht?“
Man müßte allerdings, wenn uns nur lauter Humper- dincks auf der einen, u. Kreneke auf der andern Seite
bevorstünden. Doch will man besser denken vom unver- gänglichen Formungstriebe des Menschen: die Welt kann
doch noch Jahrtausende bestehen; ist es da wahrschein- lich, daß sie nie mehr Besseres zustandebringt als die
schäbigen Hanswurstiaden heuriger Pleite? – Ich möchte Sie
etwas ergötzen: ein Rezitationsabend wird angekündigt
unter der Aufschrift:
Chaos – Eros – Kosmos.
Drei Vortragsabende mit Lesungen zu jeweils einem der Titelworte (23. November 1923, 16. Januar 1924, 5. März 1924; vgl. die Ankündigungen im Führer durch die Konzertsäle Berlins 4 (1923): Heft 8, S. [2] (Digitalisat); Heft 15, S. [2] (Digitalisat); Heft 22, S. [6] (Digitalisat).
Ein neues Buch „Schicksal der Musik“ aüssert sich
über Mozart wie folgt: „Bei Mozart ist die Melo- „dik gegen Bach unendlich entwertet, verflacht, die
„Harmonik noch ohne dramatische Funktion und
„doch nicht mehr architektonisch, die Rhythmik
„nicht steigernd, nicht bauend, das leere Stossen
„des Taktschemas noch wenig überwölbend. Alles
Preußischer
Staats- bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
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<note type="commentary" resp="#E0300314">Drei Vortragsabende mit Lesungen zu jeweils einem der Titelworte (<date when-iso="1923-11-23">23. November 1923</date>, <date when-iso="1924-01-16">16. Januar 1924</date>, <date when-iso="1924-03-05">5. März 1924</date>; vgl. die Ankündigungen im <orgName key="E0600200">Führer durch die Konzertsäle Berlins</orgName> 4 (1923): Heft 8, S. [2] (<ref type="ext" target="https://digital.sim.spk-berlin.de/viewer/image/775084921-04/30/">Digitalisat</ref>); Heft 15, S. [2] (<ref type="ext" target="https://digital.sim.spk-berlin.de/viewer/image/775084921-04/54/">Digitalisat</ref>); Heft 22, S. [6] (<ref type="ext" target="https://digital.sim.spk-berlin.de/viewer/image/775084921-04/101/">Digitalisat</ref>).</note>
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N.Mus.Nachl. 30, 137 2
„ist ein Nicht-mehr der alten u. ein Noch-nicht der neuen
„Form, ein Schweben im Sturz. Nicht wesentlich
„ist es für die Beurteilung Mozarts, wie er sich zur O- „per verhält: seine Begegnung mit ihr war nur zu- „fällig.“ –
Jarnach zitiert nicht aus dem Buch selbst, sondern eine streckenweise wörtlich paraphrasierende Rezension (Die Musik 16 [1923/1924], Nr. 2, November 1923, S. 120, Digitalisat); vgl. die zugehörigen Passagen des Originals (Wolff/Petersen 1923, S. 185 f.).
Eigentlich ist das alles aber nicht zum Lachen. Paradoxalen
Irrsinn kann man nicht mehr gelassen hinnehmen, er
überflutet alles, und die Abwehr kostet Kraft. Die geistige
Verworrenheit unsrer Zeit bekommt ein Gesicht von
bestialischer Hässlichkeit; einfaches Fühlen wird in be- ängstigendem Maße eliminiert, und nicht einmal der
Mangel einer Form wird als solcher mehr empfunden.
Nur tiefstem Gefühl ist die konkrete Oberfläche der Form
unentbehrlich. (so sagt ungefähr Blei im „Rokoko“)
Dieser (oder ein ähnlicher) Satz Franz Bleis findet sich weder in Die Sitten des Rokoko noch in Der Geist des Rokoko, wohl aber Passagen zu einer Form gewordenen Tiefe und Intensität aus alter Zeit (Blei 1921, S. V f.) sowie zur formauflösenden Wirkung des Gefühlsausdrucks jüngerer Zeiten (Blei 1923, S. 147, 243 f.).
Heute
also hat man keine Form nötig. Dieses Ungeheuerliche
ist den meisten eine Selbstverständlichkeit. – Angesichts
dessen muß unser Optimismus darin bestehen, Verfall
u. Auflösung als die sichersten Anzeichen einer kom- menden Renaissance zu denken, einer Renaissance im
Busoni’schem Sinne. Dieser Geist ist es, der schließlich
siegen wird. Und das „Wann“ ist von nur relativer
Wichtigkeit. – Um Sie wird der Streit nicht entbren- nen: Ihr Werk hat schon gesiegt, aber nur an
und für sich, im einzelnen Falle; die Konsequenz
ist daraus nicht gezogen, der innere Wille des
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<lb rend="after:„"/>ist es für die Beurteilung <persName key="E0300010">Mozarts</persName>, wie er sich zur O
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<p type="pre-split">Eigentlich ist das alles aber nicht zum Lachen. Paradoxalen
<lb/>Irrsinn kann man nicht mehr gelassen hinnehmen, er
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<lb break="no"/>ängstigendem Maße eliminiert, und nicht einmal der
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Werkes noch nicht erkannt. Dazu ist eine Zeit nicht
fähig, die sich ihrer eigenen Willenlosigkeit nicht einmal
bewußt ist. Und Ihre einstige Aüsserung: „jeder Erfolg ist
im Grunde ein Mißverständnis“ bewahrheitet sich auch
an Ihnen.
Um den sakro-sankten Egoismus nicht zu verschleiern:
ich hoffe, einige Fortschritte gemacht zu haben u. möchte
nun, um die Erfahrungen meines Quartetts reicher,
daran gehen, diese Erfahrungen durch neue Arbeiten
zu mehren. Unsere langwierige Installierung hat bis
jetzt gedauert und eine ruhige Stunde war oft
tagelang nicht zu haben; vielleicht war diese ge- zwungene Pause nicht ungünstig. – In Berlin scheint
sich die Lage zu bessern, wenigstens ist die allge- meine Stimmung nicht mehr so bedrückt. Sagen
Sie mir bitte, ob wir Sie bald erwarten dürfen,
und wie es Ihnen geht; ich war noch nie so
lange ohne Nachrichten von Ihnen! – Allerherzlichste
Grüße, auch an Frau Busoni, von Ursula u.
Ihrem in treuer Freundschaft ergebenen
PHJ.
Transkription unsicher.
Alternative Lesart:
PRJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).
P.S. – Im Begriff, diesen Brief aufzugeben, höre ich, daß Ihre
Ankunft diese Woche erwartet wird, zerreisse also mit Freude
den ersten Umschlag u. adressiere Viktoria-Luisenplatz; werde
Sie auch gleich besuchen. Auf baldiges Wiedersehen! D.O.
Preußischer
Staats- bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
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<lb break="no"/>zwungene Pause nicht ungünstig. – In <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> scheint
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<p>P<orig>.</orig>S<orig>. –</orig> Im Begriff, diesen Brief aufzugeben, höre ich, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Ihre
<lb/>Ankunft diese Woche erwartet wird, zerrei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e also mit Freude
<lb/>den ersten Umschlag <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> adressiere <placeName key="E0500072">Viktoria-Luisenplatz</placeName>; werde
<lb/>Sie auch gleich besuchen. Auf baldiges Wiedersehen! D.O.
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<hi rend="spaced-out">Preußischer</hi>
<lb/>Staats
<lb break="no"/>bibliothek
<lb/>zu <placeName key="E0500029">Berlin</placeName>
<lb/><hi rend="spaced-out">Kulturbesitz</hi>
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</p>
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<placeName key="E0500029">Berlin</placeName>-
<lb/><date when-iso="1923-11-13">13.11.23</date>.12-1N
<lb/>a
<lb/><placeName key="E0500803">Südende</placeName>
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<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="annotation" place="center" resp="#unknown_hand_red" rend="large space-below">Kritik der Zeit</note>
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<addrLine>Herrn Dr. <persName key="E0300017">Ferruccio Busoni</persName></addrLine>
<addrLine><placeName key="E0500072">Viktoria-Luisen-Platz 11</placeName></addrLine>
<addrLine><hi rend="underline"><placeName key="E0500029">Berlin</placeName> W. 30.</hi></addrLine>
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zu N.Mus.Nachl. 30, 137
12 Nov. 1923
Preußischer
Staats- bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
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<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="shelfmark" place="left" rend="space-above space-below" resp="#archive">zu N.Mus.Nachl. 30, 137</note>
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<addrLine><placeName key="E0500803"><placeName key="E0500029">Berlin</placeName>-Südende</placeName></addrLine>
<addrLine rend="smaller"><placeName key="E0500802">Tempelhoferstr. 12 a</placeName></addrLine>
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<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="dating" resp="#gerda.busoni" place="center" rend="huge" xml:id="gerda_date"><date when-iso="1923-11-12">12 Nov. 1923</date></note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="bottom-left" resp="#sbb_st_red">
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<hi rend="spaced-out">Preußischer</hi>
<lb/>Staats
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<lb/>zu <placeName key="E0500029">Berlin</placeName>
<lb/><hi rend="spaced-out">Kulturbesitz</hi>
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