Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Zürich · 30. November 1920

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N.Mus.Nachl. 30, 122

26–30 Nov. 1920

Mein lieber Meister und Freund!

Denken Sie, bitte, nicht schlimm von mir, des
unverzeihlich langen Schweigens wegen, das zu brechen
mir endlich gelingt. Der letzte vorliegende Brief Jarnachs an Busoni ist auf den 19. Oktober 1920 datiert und liegt somit knapp einen Monat zurück. Diesmal könnte ich mit Heine
sagen: Ich schrieb Ihnen nichts, denn ich hatte Ihnen
zu viel zu schreiben. In Heines Korrespondenz finden sich wiederholt entsprechende Formulierungen, z. B.: „Wenn man gar zu viel zu schreiben hat, so schreibt man gar nicht, das ist allgemein gebräuchlich, und mein langes Stillschweigen bedarf also keiner besondern Entschuldigung“ (24. Mai 1824; Heine/Eisner 1970, S. 162); „Wenn man den Leuten gar so viel zu schreiben hat, unterläßt man das Schreiben ganz und gar, doch die Nothwendigkeit drückt mir heute die Feder in die Hand“ (28. Januar 1837; Heine/Eisner 1970a, S. 177). Auessere Begebenheiten zum ge-
ringsten Teil; aber einiges, so mir durch Gemüt und
Verstand ging, hatte ich zur späteren Mitteilung in ei-
nem Winkel meines Denkkastens aufbewahrt. – Nun
ich aber daran gehe, den Bericht anzufangen, bemerke
ich mit Schrecken, dass mir das Meiste entfällt,
andres sich im Raum eines Briefes nicht fassen lässt.
Die Heine’sche Methode taugt also nichts: durch An-
häufung des Materials gerät man ins Stocken.

Wenn ich indessen die erwähnten Mitteilungen einer
späteren, günstigen Gelegenheit überlasse, so muss ich
wenigstens versuchen, das Wesentliche dessen festzu-
halten, was ich Ihnen über Ihre lieben Briefe
sagen wollte. Seit langem hatte mich kein Schreiben
von Ihnen so tief gefreut wie jeners, worin Sie mir
die Fortsetzung der Faust-Komposition mitteilen. Im Brief vom 23. Oktober 1920 vermeldet Busoni die Wiederaufnahme der Arbeit an seiner Oper „Doktor Faust“. Weitere Details zur Arbeit am Ersten Bild des Hauptspiels, den Festlichkeiten im Hofpark zu Parma, finden sich im darauffolgenden Brief vom 30. Oktober 1920.
Ihr früheres Schweigen darüber war mir aufge-

26.–30. November 1920

Mein lieber Meister und Freund!

Denken Sie, bitte, nicht schlimm von mir, des unverzeihlich langen Schweigens wegen, das zu brechen mir endlich gelingt. Der letzte vorliegende Brief Jarnachs an Busoni ist auf den 19. Oktober 1920 datiert und liegt somit knapp einen Monat zurück. Diesmal könnte ich mit Heine sagen: Ich schrieb Ihnen nichts, denn ich hatte Ihnen zu viel zu schreiben. In Heines Korrespondenz finden sich wiederholt entsprechende Formulierungen, z. B.: „Wenn man gar zu viel zu schreiben hat, so schreibt man gar nicht, das ist allgemein gebräuchlich, und mein langes Stillschweigen bedarf also keiner besondern Entschuldigung“ (24. Mai 1824; Heine/Eisner 1970, S. 162); „Wenn man den Leuten gar so viel zu schreiben hat, unterläßt man das Schreiben ganz und gar, doch die Nothwendigkeit drückt mir heute die Feder in die Hand“ (28. Januar 1837; Heine/Eisner 1970a, S. 177). Äußere Begebenheiten zum geringsten Teil; aber einiges, so mir durch Gemüt und Verstand ging, hatte ich zur späteren Mitteilung in einem Winkel meines Denkkastens aufbewahrt. – Nun ich aber daran gehe, den Bericht anzufangen, bemerke ich mit Schrecken, dass mir das Meiste entfällt, andres sich im Raum eines Briefes nicht fassen lässt. Die Heine’sche Methode taugt also nichts: Durch Anhäufung des Materials gerät man ins Stocken.

Wenn ich indessen die erwähnten Mitteilungen einer späteren, günstigen Gelegenheit überlasse, so muss ich wenigstens versuchen, das Wesentliche dessen festzuhalten, was ich Ihnen über Ihre lieben Briefe sagen wollte. Seit langem hatte mich kein Schreiben von Ihnen so tief gefreut wie jenes, worin Sie mir die Fortsetzung der Faust-Komposition mitteilen. Im Brief vom 23. Oktober 1920 vermeldet Busoni die Wiederaufnahme der Arbeit an seiner Oper „Doktor Faust“. Weitere Details zur Arbeit am Ersten Bild des Hauptspiels, den Festlichkeiten im Hofpark zu Parma, finden sich im darauffolgenden Brief vom 30. Oktober 1920. Ihr früheres Schweigen darüber war mir aufgefallen, auch dass Sie, auf eine etwas besorgte Anspielung meinerseits – aus Polling, zu Ostern, – nicht reagierten. Der Brief, auf den Jarnach hier verweist, ist offenbar nicht erhalten: Unter den vorliegenden Briefen Jarnachs an Busoni befindet sich keiner, der zur Osterzeit 1920 (oder auch 1919) aus Polling abgesendet wurde. Umso glücklicher bin ich jetzt, dass der Faden wieder angeknüpft; Sie wissen, wie sehr ich dieses Werk erwarte. Und wenn die Diskretion mir gebot, seiner nicht zu erwähnen, solange Sie es nicht selbst taten, so kann ich Sie versichern, dass mich der Gedanke daran oft und viel beschäftigt hat.

Ich danke Ihnen herzlichst für Ihre freundschaftliche Teilnahme, meine Arbeit betreffend. Die Sache ist noch nicht so weit gediehen, dass ich darüber etwas sagen möchte; das Wesentliche, der ganze Plan ist in der Hauptsache entweder skizziert oder in meinem Kopf ziemlich klar geordnet. Mit dem bisher Ausgeführten bin ich sogar zufrieden und ich hoffe, wenn es so weiter gelingt, Ihren Beifall zu finden – die einzige Zustimmung, die mir künstlerisch wichtig ist. Weder aus dem Briefwechsel mit Busoni noch anhand von Jarnachs Werkverzeichnis (vgl. Weiss 1996, S. 414–416) geht hervor, von welcher Arbeit hier die Rede ist. Die nächsten vollendeten und überlieferten, hier indes wohl nicht gemeinten Werke Jarnachs datieren von Mitte 1921 (Teile der Fünf Gesänge op. 15).

In eignem Konzert blies Nada die Flöten-Sonatine, vom jungen Frey befriedigend begleitet. Konzert am 4. November 1920 in der Tonhalle Zürich (vgl. Weiss 1996, S. 413). Das Stück hat mir gefallen. Beim Vortrag merkt man nicht, dass das Klavier allzu quartettmäßig behandelt ist. Merkwürdig, wie schwerfällig meine Einstellung zu diesem Instrument ist. Ich müsste geradezu eine Klaviersonate schreiben, um wenigstens versucht zu haben, dies wegzuüben.

Ein merkwürdiger Zufall – wir sprechen immer vom Zufall: aber wird denn nicht die Macht, die wir also benennen, durch Korrelationen bestimmt, welche nicht deswegen „zufällig“ sein müssen, weil das Geheimnis ihrer Gesetzmäßigkeit unergründlich bleibt? – der Zufall also wollte es, dass gerade im Moment, wo ein im Film entwürdigtes Meisterwerk Ihr Interesse für Calderon erweckte, Siehe hierzu Busonis Brief an Jarnach vom 30. November 1920. ich einige seiner Schauspiele, unvergleichlich schöne Sachen las. (Deutsch von A. W. Schlegel und Gries.) – Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Lektüre, versuchte ich Herrn Oberregisseur Révy dazu zu bewegen, wenigstens eines von diesen Stücken, die Schlegel durch seine Arbeit sozusagen der deutschen klassischen Literatur einverleibte, zur Aufführung zu bringen. – Er antwortete mit einem seiner verblüffenden Originalklischees: „unsere Zeit hätte wenig übrig für den fanatischen Anwalt des mittelalterlichen Katholizismus“ (!). Insbesondere Calderons Drama „Der Richter von Zalamea“ kann als eine Bestärkung des Katholizismus am Ende des 16. Jahrhunderts aufgefasst werden, da der Protagonist, der Richter, seine Entscheidungen an seinem Glauben an Gott ausrichtet. Das nahm ich ihm sehr übel; er musste mir sein Wort geben, alles durchzulesen, was ich ihm schicken würde. – Aber was sagen Sie dazu, in was für einer Zeit leben wir? dass die Leute, deren Beruf das Theater ist, die Fundamente des Theaters nicht kennen!

Calderons Kunst trägt nicht den Zug ins Universale. Deswegen scheint mir ein Vergleich mit Cervantes oder Shakespeare ausgeschlossen. Aber in seinem Kreis erreicht er einen beispiellosen Grad poetischer Vollendung. Welche Gewalt und welche Grazie, und alle subtilen und subtilsten Abstufungen des Gefühls! – Die Cotta’sche Ausgabe (3 Bde. ohne Jahreszahl) enthält auch den „Richter von Zalamea“ und wird von einer Studie des Grafen A. F. von Schack eingeleitet, welche Sie sehr interessieren dürfte. Dieselbe enthält, in Form trocken vorgebrachter historischer Tatsachen, einige wichtige Bekräftigungen Ihrer eigenen Ansichten über Regie und Inszenierung.

Lienau überraschte mich dadurch, dass er Ihnen das Quintett schickte, bevor ich wusste, dass es endlich erschienen war. Ich wollte Ihnen nämlich die Widmung erläutern. Ist die Gelegenheit dazu verpasst, so hoffe ich wenigstens, dass Sie die lakonische Kürze besagter Zueignung Die Widmung des Streichquintetts op. 10 Jarnachs lautet schlicht: „An Ferruccio Busoni (vgl. Weiss 1996, S. 410). nicht als unpassende Vertraulichkeit empfanden, vielmehr die Absicht herausfühlten: die persönliche Anrede auszuschalten. – Ich konnte mich nicht entschließen, vor Ihrem Namen Titel oder Prädikat zu setzen. Möge dieser Name allen, wie mir, stets das bedeuten, was keine Bezeichnung je auszudrücken vermöchte!

Ihre Mitteilung, das Stück werde in Berlin gespielt, Vgl. Busonis Postkarte vom 7. November 1920. freut mich ganz kolossal, stachelt aber die Neugierde an: Wer spielt, und wann, wer veranlasste?

Das Letztere kann ich raten. Die Aufführung fand am 20. April 1921 im VI. Kammermusikabend des Anbruch statt (vgl. Weiss 1996, S. 131).

Wir hörten mit Freude von Ihren Klavierabenden und deren Erfolg. Am 18. und 28. November 1920 gab Busoni zwei Klavierabende in der Berliner Philharmonie (vgl. Couling 2005, S. 329). Da wäre also der Kontakt auch öffentlich wiederhergestellt und somit der Anfang zur „Einstellung“ geschehen; Aufführungen Ihrer Werke der Schweizer Jahre werden sie vervollständigen, die Bedeutung Ihrer Rückkehr nach Berlin auch den Abseits-Stehenden zum Bewusstsein bringen. Zwar werden sich die Gegner rühren, jedoch nicht sie allein: Druck erzeugt Gegendruck, die Opposition ist ein Element des Erfolgs.

Dieses wird in Zürich ewig fehlen; die Gesamtheit des Publikums ist ein für alle Mal mit allem einverstanden und zufrieden; grüßt und klatscht, und im nächsten Moment treten Kunstwerk und Stümperiade einträchtig in die Versenkung schmunzelnder Gleichgültigkeit. – Einmal sprach ich Andreae davon; er erklärte mir diese Erscheinung als eine Folge der Wohlerzogenheit des Publikums, das, die Heftigkeit seiner Empfindungen zu zügeln bestrebt, Begeisterung wie Ärger unter dezentem Applaus gleichermaßen verberge. – Candide sagt es ja: „Tout est pour le mieux dans le meilleur des mondes.“ Frz.: Alles steht zum Besten in der besten aller [möglichen] Welten.

Gestern sah ich Weiss, der mir vieles von Ihnen erzählte. Er spielte im Abonnement das d-Moll von Brahms. Wir hörten darauf die Musik zum „Bürger als Edelmann“, welche den Konzertsaal besser verträgt, als ich gedacht hätte – eine Reihe netter Stücke, gelungene Klangwagnisse, triviale Bildhaftigkeit, aber Temperament und sogar Frische. – Ich habe mich sehr gut unterhalten, möchte es aber nicht gleich wieder hören; wenn man die Pointe weiß, amüsiert sie einen nicht mehr.

Benni war die ganze Zeit unsichtbar. Wir wollen ihn schon lange einladen und warteten auf eine Gelegenheit; da sich diese nicht bietet, werden wir die Initiative ergreifen. Es ist auch Zeit dazu, denn Weihnacht rückt heran und wir beabsichtigen, nach Polling zu fahren – und Sie hierauf in Berlin zu besuchen, über welchen Plan ich mich schon lange im Stillen freue.

Es ist aber wirklich Zeit, diesen endlosen Brief zu schließen.

Empfangen Sie sowie Frau Busoni die allerherzlichsten Grüße der Barbara und Ihres in treuer Freundschaft ergebenen

PS Für Ihren jüngsten, vorgestern eingetroffenen Brief herzlichsten Dank und nochmalige Zerknirschung über meine Langsamkeit im Antworten!

                                                                
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fallen, auch dass Sie, auf eine etwas besorgte Anspielung
meinerseits – aus Polling, zu Ostern, – nicht reagierten. Der Brief, auf den Jarnach hier verweist, ist offenbar nicht erhalten: Unter den vorliegenden Briefen Jarnachs an Busoni befindet sich keiner, der zur Osterzeit 1920 (oder auch 1919) aus Polling abgesendet wurde.
Umso glücklicher bin ich jetzt, dass der Faden wieder
angeknüpft; Sie wissen, wie sehr ich dieses Werk erwarte.
Und wenn die Diskretion mir gebot, seiner nicht zu
erwähnen, solange Sie es nicht selbst taten, so kann
ich Sie versichern, dass mich der Gedanke daran oft
und viel beschäftigt hat.

Ich danke Ihnen herzlichst für Ihre freundschaftliche
Teilnahme, meine Arbeit betreffend. Die Sache ist noch
nicht soweit gediehen, dass ich darüber etwas sagen
möchte; das Wesentliche, der ganze Plan ist in der
Hauptsache entweder skizziert oder in meinem Kopf
ziemlich klar geordnet. Mit dem bisher ausgeführten
bin ich sogar zufrieden und ich hoffe, wenn es so
weiter gelingt, Ihren Beifall zu finden – die einzige
Zustimmung, die mir künstlerisch wichtig ist. Weder aus dem Briefwechsel mit Busoni noch anhand von Jarnachs Werkverzeichnis (vgl. Weiss 1996, S. 414–416) geht hervor, von welcher Arbeit hier die Rede ist. Die nächsten vollendeten und überlieferten, hier indes wohl nicht gemeinten Werke Jarnachs datieren von Mitte 1921 (Teile der Fünf Gesänge op. 15).

In eignem Konzert blies Nada die Flöten-
Sonatine
, vom jungen Frey befriedigend begleitet. Konzert am 4. November 1920 in der Tonhalle Zürich (vgl. Weiss 1996, S. 413). Das
Stück
hat mir gefallen. Beim Vortrag merkt man
nicht, dass das Klavier allzu quartettmässig
behandelt ist. Merkwürdig, wie schwerfällig meine
Einstellung zu diesem Instrument ist. Ich müsste
geradezu eine Klaviersonate schreiben, um wenig-
stens versucht zu haben, dies wegzuüben. Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

                                                                
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Ein merkwürdiger Zufall, – wir sprechen immer vom
Zufall: aber wird denn nicht die Macht, die wir also
benennen, durch Korrelationen bestimmt, welche nicht
deswegen „zufällig“ sein müssen, weil das Geheimnis
ihrer Gesetzmässigkeit unergründlich bleibt? – der Zufall
also wollte es, dass gerade im Moment wo ein im
Film entwürdigtes Meisterwerk Ihr Interesse für Calderon
erweckte, Siehe hierzu Busonis Brief an Jarnach vom 30. November 1920. ich einige seiner Schauspiele, unvergleichlich
schöne Sachen las. (deutsch von A. W. Schlegel und
Gries.) – Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der
Lektüre, versuchte ich Herrn Oberregisseur Révy dazu zu
bewegen, wenigstens eines von diesen Stücken, die Schlegel
durch seine Arbeit sozusagen der deutschen klassischen
Literatur einverleibte, zur Aufführung zu bringen. – Er
antwortete mit einem seiner verblüffenden Original-
klischee[s]: „unsere Zeit hätte wenig übrig für den fa-
natischen Anwalt des mittelalterlichen Katholizismus“
(!) Insbesondere Calderons Drama „Der Richter von Zalamea“ kann als eine Bestärkung des Katholizismus am Ende des 16. Jahrhunderts aufgefasst werden, da der Protagonist, der Richter, seine Entscheidungen an seinem Glauben an Gott ausrichtet.
Das nahm ich ihm sehr übel; er musste mir sein
Wort geben, alles durchzulesen, was ich ihm schicken
würde. – Aber was sagen Sie dazu, in was für einer
Zeit leben wir? dass die Leute, deren Beruf das
Theater ist, die Fundamente des Theaters nicht ken-
nen!

Calderons Kunst trägt nicht den Zug ins Universale.
Deswegen scheint mir ein Vergleich mit Cervantes

                                                                
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oder Shak[e]speare ausgeschlossen. Aber in seinem Kreis
erreicht er einen beispiellosen Grad poetischer Vollendung.
Welche Gewalt und welche Grazie, und alle subtilen
und subtilsten Abstufungen des Gefühls! – Die Cotta’sche
Ausgabe (3 Bde ohne Jahreszahl) enthält auch den
„Richter von Zalamea“ und wird von einer Studie
des Grafen A. F. von Schack eingeleitet, welche Sie
sehr interessieren dürfte. Dieselbe enthält, in Form
trocken vorgebrachter historischer Tatsachen einige
wichtige Bekräftigungen Ihrer eigenen Ansichten über
Regie und Inszenierung.

Lienau überraschte mich dadurch, dass er Ihnen das
Quintett schickte, bevor ich wusste, dass es endlich
erschienen war. Ich wollte Ihnen nämlich die Widmung
erläutern. Ist die Gelegenheit dazu verpasst, so hoffe
ich wenigstens, dass Sie die lakonische Kürze besagter
Zueignung Die Widmung des Streichquintetts op. 10 Jarnachs lautet schlicht: „An Ferruccio Busoni (vgl. Weiss 1996, S. 410). nicht als unpassende Vertraulichkeit emp-
fanden, vielmehr die Absicht herausfühlten: die per-
sönliche Anrede auszuschalten. – Ich konnte mich nicht
entschliessen, vor Ihrem Namen Titel oder Prädikat
zu setzen. Möge dieser Name Allen, wie mir, stets
Das bedeuten, was keine Bezeichnung je auszudrücken
vermöchte! Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

Ihre Mitteilung, das Stück werde in Berlin gespielt, Vgl. Busonis Postkarte vom 7. November 1920.

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> oder <persName key="E0300166">Shak<supplied reason="omitted">e</supplied>speare</persName> ausgeschlossen. Aber in seinem Kreis <lb/>erreicht er einen beispiellosen Grad poetischer Vollendung. <lb/>Welche Gewalt und welche Grazie, und alle subtilen <lb/>und subtilsten Abstufungen des Gefühls! – Die <orgName key="E0600167">Cotta</orgName>’sche <lb/>Ausgabe (3 <abbr>Bde<reg>.</reg></abbr> ohne Jahreszahl) enthält auch den <lb/><title key="E0400503" rend="dq-du">Richter von Zalamea</title> und wird von einer Studie <lb/>des <persName key="E0300694">Grafen A. F. von Schack</persName> eingeleitet, welche Sie <lb/>sehr interessieren dürfte. Dieselbe enthält, in Form <lb/>trocken vorgebrachter historischer Tatsachen<reg>,</reg> einige <lb/>wichtige Bekräftigungen Ihrer eigenen Ansichten über <lb/>Regie und Inszenierung.</p> <p rend="space-above"><persName key="E0300298">Lienau</persName> überraschte mich dadurch, dass er Ihnen das <lb/><rs key="E0400498">Quintett</rs> schickte, bevor ich wusste, dass es endlich <lb/>erschienen war. Ich wollte Ihnen nämlich die Widmung <lb/>erläutern. Ist die Gelegenheit dazu verpasst, so hoffe <lb/>ich wenigstens, dass Sie die lakonische Kürze besagter <lb/>Zueignung <note type="commentary" resp="#E0300615">Die Widmung des <title key="E0400498">Streichquintetts op. 10</title> <persName key="E0300376">Jarnach</persName>s lautet schlicht: <q>An <persName key="E0300017">Ferruccio Busoni</persName></q> <bibl>(vgl. <ref target="#E0800350"/>, S. 410)</bibl>.</note> nicht als unpassende Vertraulichkeit emp <lb break="no"/>fanden, vielmehr die Absicht herausfühlten: die per <lb break="no"/>sönliche Anrede auszuschalten. – Ich konnte mich nicht <lb/>entschlie<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en, vor Ihrem Namen Titel oder Prädikat <lb/>zu setzen. Möge dieser Name <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>llen, wie mir, stets <lb/><choice><orig>D</orig><reg>d</reg></choice>as bedeuten, was keine Bezeichnung je auszudrücken <lb/>vermöchte! <note type="stamp" place="margin-right" resp="#sbb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) majuscule tiny"> <hi rend="spaced-out">Preußischer</hi> <lb/>Staats <lb break="no"/>bibliothek <lb/>zu <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> <lb/><hi rend="spaced-out">Kulturbesitz</hi> </stamp> </note> </p> <p type="pre-split">Ihre Mitteilung, <rs key="E0400498">das Stück</rs> werde in <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> gespielt, <note type="commentary" resp="#E0300615">Vgl. <persName key="E0300017">Busonis</persName> <ref target="#D0101701">Postkarte vom <date when-iso="1920-11-07">7. November 1920</date></ref>.</note> </p></div>
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5Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 122
freut mich ganz kolossal, stachelt aber die Neugierde an:
Wer spielt, und wann, wer veranlasste?

Das letztere kann ich raten. Die Aufführung fand am 20. April 1921 im VI. Kammermusikabend des Anbruch statt (vgl. Weiss 1996, S. 131).

Wir hörten mit Freude von Ihren Klavierabenden und
deren Erfolg. Am 18. und 28. November 1920 gab Busoni zwei Klavierabende in der Berliner Philharmonie (vgl. Couling 2005, S. 329). Da wäre also der Kontakt auch öffentlich
wiederhergestellt und somit der Anfang zur „Einstellung“
geschehen; Aufführungen Ihrer Werke der Schweizer
Jahre werden sie vervollständigen, die Bedeutung Ihrer
Rückkehr nach Berlin auch den Abseits-Stehenden zum
Bewusstsein bringen. Zwar werden sich die Gegner rüh⸗
ren, jedoch nicht sie allein: Druck erzeugt Gegendruck,
die Opposition ist ein Element des Erfolgs.

Dieses wird in Zürich ewig fehlen; die Gesamtheit des
Publikums ist ein für alle Mal mit Allem einverstanden
und zufrieden; grüsst und klatscht, und im nächsten
Moment treten Kunstwerk und Stümperiade ein-
trächtig in die Versenkung schmunzelnder Gleich-
gültigkeit. – Einmal sprach ich Andreae davon; er
erklärte mir diese Erscheinung als eine Folge der
Wohlerzogenheit des Publikums, das, die Heftigkeit
seiner Empfindungen zu zügeln bestrebt, Begeisterung
wie Aerger unter dezentem Applaus gleichermassen
verberge. – Candide sagt es ja: „Tout est pour le mieux
dans le meilleur des mondes.“
Frz.: Alles steht zum Besten in der besten aller [möglichen] Welten.

Gestern sah ich Weiss, der mir vieles von Ihnen

                                                                
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6Diplomatische Umschrift
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erzählte. Er spielte im Abonnement das d-moll von Brahms.
Wir hörten darauf die Musik zum „Bürger als Edel-
mann“
, welche den Konzertsaal besser verträgt als ich
gedacht hätte, – eine Reihe netter Stücke, gelungene
Klangwagnisse, triviale Bildhaftigkeit, aber Temperament
und sogar Frische. – Ich habe mich sehr gut unterhal-
ten, möchte es aber nicht gleich wieder hören; wenn
man die Pointe weiss, amüsiert sie einen nicht mehr.

Benni war die ganze Zeit unsichtbar. Wir wollen ihn
schon lange einladen und warteten auf eine Gelegen-
heit; da sich diese nicht bietet, werden wir die Ini-
tiative ergreifen. Es ist auch Zeit dazu, denn Weih-
nacht rückt heran und wir beabsichtigen, nach Polling
zu fahren, – und Sie hierauf in Berlin zu be-
suchen, über welchen Plan ich mich schon lange
im Stillen freue.

Es ist aber wirklich Zeit, diesen endlosen Brief
zu schliessen. Empfangen Sie, sowie Frau Busoni
die allerherzlichsten Grüsse der Barbara und
Ihres in treuer Freundschaft ergebenen

P.S. – Für Ihren jüngsten, vorgestern eingetroffenen Brief, herz-
lichsten Dank und nochmalige Zerknirschung über meine
Langsamkeit im Antworten! Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

                                                                
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Dokument

doneStatus: zur Freigabe vorgeschlagen XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,122 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 6 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach entschuldigt sich für sein langes Schweigen; begrüßt die von Busoni vermeldete „Fortsetzung der Faust-Komposition; hat zu einer neuen „Arbeit“ den „ganze[n] Plan […] entweder skizziert oder in meinem Kopf ziemlich klar geordnet“; nennt im Zusammenhang der ersten öffentlichen Aufführung seiner Sonatine für Flöte und Klavier seine Haltung gegenüber dem Klavier „schwerfällig“; hat nach Lektüre von Calderon-Schauspielen vergeblich Aufführungen am Zürcher Stadttheater anzuregen versucht, empfiehlt Busoni eine Ausgabe; erläutert die schnörkellose Widmung seines Streichquintetts an Busoni; sieht in den erfolgreichen Klavierabenden Busonis den ersten Schritt zu dessen Etablierung in der neuen Berliner Musikszene; diagnostiziert dem Zürcher Publikum „schmunzelnde[] Gleichgültigkeit“; hat das Klavierkonzert d-Moll von Brahms und die Orchestersuite zum Bürger als Edelmann von Strauss im Konzert gehört; will Busoni nach Weihnachten in Berlin besuchen.
Incipit
Denken Sie, bitte, nicht schlimm von mir

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
16. November 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition