Kurt Weill an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Florenz · 8. März 1924

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Mus.ep. K. Weill 8
(Busoni-Nachl. B II)
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 5366
Deutsche
Staats-
bibliothek

* Berlin *
Firenze . 8. III. 1924.

Lieber Meister,

tausend Dank für Ihren Brief,
der mich hier erreichte. Ich
bin sehr froh, von authentischster
Seite Ihr Wohlbefinden bestätigt
zu hören, denn es hatte mich
etwas bedrückt, nicht zu wissen,
wie es Ihnen geht. Hoffendlich hat
der Himmel nun ein Einsehen
u. schickt Ihnen die Wärme, die
wohl das letzte ist, was an Ih-
rer völligen Gesundung noch fehlt.
Auch die Freudennachricht von

Florenz, 8.3.1924

Lieber Meister,

tausend Dank für Ihren Brief, der mich hier erreichte. Ich bin sehr froh, von authentischster Seite Ihr Wohlbefinden bestätigt zu hören, denn es hatte mich etwas bedrückt, nicht zu wissen, wie es Ihnen geht. Hoffentlich hat der Himmel nun ein Einsehen und schickt Ihnen die Wärme, die wohl das Letzte ist, was an Ihrer völligen Gesundung noch fehlt. Auch die Freudennachricht von der Brautwahl war geeignet, meinen Florentiner Aufenthalt in ein rosiges Licht zu tauchen, was ja eigentlich Aufgabe der Sonne sein müsste. Die versteckt sich aber vor mir, seit ich 2000 m von ihr abgerückt bin; sollte das eine Rache sein? Gestern hat es den ganzen Tag geregnet und heut war eine richtige Berliner Kälte, und wenn Lello noch nicht abgereist ist, rate ich ihm, noch ein paar Wochen zu warten.

Ich bin aber ganz froh, dass ich durch diese Temperatur auf einen Teil des Eindrucks, auf den Florentiner Himmel, verzichten muss, denn noch das, was bleibt, ist fast zu viel. Welches unfassbare Glück, an der Brüstung des Arno lehnen zu dürfen, an demselben Stein, den Dantes Hand berührt hat! Das ist das Erschütternde an dieser Stadt: es ist alles geblieben, wie es zu Zeit ihrer Schöpfer war, man muss nicht historisch denken, um Schönheiten zu erfassen sondern alles lebt; man braucht nur eine Hand von Cellinis Perseus zu berühren – so spürt man ein Pulsen, ein Regen, ein Sprechen – und Jahrhunderte sinken in die Fluten des Arno. An der Mauer des Palazzo vecchio befindet sich ein Gitterfenster, hinter dem die Medici das Urteil des Volkes über seine neusten Geschenke belauschten: hier ist der Sinn all des Unbegreiflichen. Dieses Volk konnte nicht leben ohne Schönheit, so schuf es sich die Männer, die ihnen jene Umgebung schaffen konnten, welche ihre einzige Existenzbedingung war. Das allein vermag eine solche Fülle monumentaler Erscheinungen zu erklären, wie diese Stadt im Jahre 1500 sie aufzuweisen hatte.

Vor wenigen Jahren erst wurde mir — durch Ihr Spiel und Ihre Worte — Mozart zum Erlebnis. In diesen Tagen bildet sich eine neue Offenbarung heraus: die italienische Renaissance, und Raffaello als Gegenpol zu Mozart. Die Madonna Granduca versetzt mich in dieselben Wonneschauer wie ein Lied von Schubert, und dieselbe Empfindung bewegt mich bei Murillos bambino wie bei den geharnischten Männern. Aus Mozarts Zauberflöte. Es gibt nur eine Kunst, und man spürt es körperlich, wenn sie in Erscheinung tritt.

Dieses Reisen für sich allein ist ein Genuss eigener Art. Man erlebt ungemein intensiv, man ist aufnahmefähig, ohne sensationslüstern zu werden, u. man sieht Dinge, die manchem verborgen blei- ben. Mit Felice Boghen habe ich einen lustigen Abend verlebt. Wir waren in einer italienischen Kneipe – ich glaube, sie hiess la bucollo –, es gab einen gött- lichen Chianti; wir tranken auf Ihre Gesundheit, auf Ihre Kunst, auf Ihre Menschlichkeit –ach es gab so viele Seiten Ihres Wesens, auf die man anstossen musste, dass ich in vollständig betrunke- nem Zustande am Arno landete und den ängstlich verborgenen

Mond mit einem Sonett über die Schönheit des Lebens apostrophierte. Meister, kommen Sie nach Italien, hier finden Sie vieles, was Sie ver- missen, es ist ruhig, die Men- schen quälen sich weder selbst noch gegenseitig, u. der Wein ----- Dann traf ich Frau Goth, die sich sofort als Zeitung erwies, indem sie berichtete, dass meine Orchesterstücke aus der „Zaubernacht“ in Prag aufgeführt werden; sollte das wahr sein? Es wäre herrlich, aber ich bin nicht gewöhnt, dass solche Freudenbotschaften sich bestä- tigen. – Morgen abend fahre ich nach Rom, wo ich bis Ende der Wo- che poste restante zu erreichen bin. Alle guten Wünsche! Stets Ihr Weill.

N.B. Ich werde nicht nach Napoli gehen; es ist zu früh in der Jahreszeit u. mein Geld geht zur Neige. Vielleicht gehe ich von Ancona per Schiff nach Venedig, von dort nach Wien. Nochmals viel Liebes für Sie u. alle, die gut zu Ihnen sind. Ihr K. W.

                                                                
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nen Florentiner Aufenthalt in ein
rosiges Licht zu tauchen, was ja
eigentlich Aufgabe der Sonne sein
müsste. Die versteckt sich aber vor
mir, seit ich 2000 m von ihr ab-
gerückt bin; sollte das eine Rache
sein? Gestern hat es den ganzen
Tag geregnet u. heut war eine
richtige Berliner Kälte, u. wenn
Lello noch nicht abgereist ist,
rate ich ihm, noch ein paar Wo-
chen zu warten.

Ich bin aber ganz froh, dass ich

                                                                
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denn noch das, was bleibt, ist
fast zu viel. Welches unfassbare
Glück, an der Brüstung des
Arno lehnen zu dürfen, an dem-
selben Stein, den Dantes Hand
berührt hat! Das ist das er-
schütternden an dieser Stadt:
es ist alles geblieben, wie es
zu Zeit ihrer Schöpfer war,
man muss nicht historisch den-
ken, um Schönheiten zu erfassen[2]

B II, 5366
Deutsche
Staats-
bibliothek

* Berlin *

                                                                
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Perseus zu berühren – so spürt man
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– u. Jahrhunderte sinken in die
Fluten des Arno. An der Mauer
des Palazzo vecchio befindet sich
ein Gitterfenster, hinter dem
die Medici das Urteil des Volkes
über seine neusten Geschenke be-
lauschten: hier ist der Sinn
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Volk konnte nicht leben ohne

                                                                
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die Männer, die ihnen jene Um-
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ihre einzige Existenzbedingung
war. Das allein vermag eine solche
Fülle monumentaler Erscheinungen
zu erklären, wie diese Stadt im
Jahre 1500 sie aufzuweisen hatte.

Vor wenigen Jahren erst wurde
mir — durch Ihr Spiel u. Ihre
Worte — Mozart zum Erlebnis. In
diesen Tagen bildet sich eine neue
Offenbarung heraus: die italieni-
sche
Renaissance, u. Raffaello als Deutsche
Staats-
bibliothek

* Berlin *
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Granduca
versetzt mich in diesel-
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von Schubert, u. dieselbe Empfin-
dung bewegt mich bei Murillos
bambino wie bei den geharnischten Männern. Aus Mozarts Zauberflöte. Es gibt nur eine
Kunst u. man spürt es körper-
lich, wenn sie in Erscheinung
tritt.

Dieses Reisen für sich allein ist
ein Genuss eigener Art. Man er-
lebt ungemein intensiv, man ist aufnahmefähig, ohne sensations-

                                                                
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Dinge, die manchem verborgen blei-
ben. Mit Felice Boghen habe ich
einen lustigen Abend verlebt.
Wir waren in einer italienischen
Kneipe – ich glaube, sie hiess
la bucollo –, es gab einen gött-
lichen Chianti; wir tranken auf
Ihre Gesundheit, auf Ihre Kunst,
auf Ihre Menschlichkeit –ach es
gab so viele Seiten Ihres Wesens,
auf die man anstossen musste,
dass ich in vollständig betrunke-
nem Zustande am Arno landete
und den ängstlich verborgenen

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Schönheit des Lebens apostrophierte.
Meister, kommen Sie nach Italien,
hier finden Sie vieles, was Sie ver-
missen, es ist ruhig, die Men-
schen quälen sich weder selbst noch
gegenseitig, u. der Wein -----
Dann traf ich Frau Goth, die sich
sofort als Zeitung erwies, indem sie
berichtete, dass meine Orchesterstücke
aus der „Zaubernacht“ in Prag aufgeführt
werden; sollte das wahr sein? Es wäre
herrlich, aber ich bin nicht gewöhnt,
dass solche Freudenbotschaften sich bestä-
tigen. – Morgen abend fahre ich
nach Rom, wo ich bis Ende der Wo-
che poste restante zu erreichen bin.
Alle guten Wünsche! Stets Ihr Weill.

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N.B. Ich werde nicht nach
Napoli gehen; es ist zu früh
in der Jahreszeit u. mein Geld
geht zur Neige. Vielleicht gehe
ich von Ancona per Schiff nach
Venedig, von dort nach Wien.
Nochmals viel Liebes für Sie
u. alle, die gut zu Ihnen sind. Ihr K. W.

                                                                
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Dokument

warningStatus: in Bearbeitung XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 5366 | olim: Mus.ep. K. Weill 8 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
5 Blatt, 9 beschriebene Seiten
Kollation
Blatt 4 verso unbeschrieben
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Kurt Weill, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12345678910

Zusammenfassung
Weill […, S. 1–3 noch zu ergänzen]; spürt eine körperliche Gegenwärtigkeit der Florentiner Kunstgeschichte; bezeichnet die Renaissance als Offenbarung und Raffael als „Gegenpol zu Mozart; […, S. 7–9 noch zu ergänzen].
Incipit
tausend Dank für Ihren Brief, der mich

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
17. Oktober 2021: in Bearbeitung (in der Erfassungs-/Codierungsphase)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Theurich 1990, S. 119 f. Theurich 1998, S. 29–31