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N.Mus.Nachl. 30, 116
Mein lieber, verehrter Meister!
Es sind gerade vierzehn Tage, dass ich
Sie, am Vorabend meiner Abreise, in
Zürich sah. Ich war an dem Abend
etwas unfroh und prosaisch, was Sie,
ich fürchte es, nur zu gut werden
bemerkt haben. Das hing aber nicht
mit den kleinen menschlichen Erfah⸗ rungen, die Ihnen zu erzählen ich
das Vergnügen hatte, zusammen, sondern
ich war bedrückt wegen der Augengeschichte
meiner Frau und der Aussicht, unter
diesen erschwerenden Umständen zu
reisen. – Inzwischen war Ursula, schon
nach einigen Tagen, vollständig geheilt,
und seitdem können wir uns ungestört
den ländlichen Freuden hingeben. –
Gegenwärtig liegt zwar der Wolfgang
im Bett, an den Masern erkrankt; er
hat sie aber nicht stark bekommen
und es geht ihm schon besser.
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Mein lieber, verehrter Meister!
Es sind gerade vierzehn Tage, dass ich
Sie, am Vorabend meiner Abreise, in
Zürich sah. Ich war an dem Abend
etwas unfroh und prosaisch, was Sie,
ich fürchte es, nur zu gut werden
bemerkt haben. Das hing aber nicht
mit den kleinen menschlichen Erfahrungen, die Ihnen zu erzählen ich
das Vergnügen hatte, zusammen, sondern
ich war bedrückt wegen der Augengeschichte
meiner Frau und der Aussicht, unter
diesen erschwerenden Umständen zu
reisen. – Inzwischen war Ursula, schon
nach einigen Tagen, vollständig geheilt,
und seitdem können wir uns ungestört
den ländlichen Freuden hingeben. –
Gegenwärtig liegt zwar der Wolfgang
im Bett, an den Masern erkrankt; er
hat sie aber nicht stark bekommen,
und es geht ihm schon besser.
Bei schönem Wetter ist Polling ideal; die
Umgebung bietet – in nächster Nähe –
alle Abstufungen des Landschaftlichen;
milde Hügelwellen beleben die Ebene, ohne
den Horizont zu verkürzen, alle Linien
fließen ineinander, wie grüne Arabesken.
Wald und Wiesen gleichen einem unendlichen
Park voll harmonischer Ruhe, Anmut
und Stärke.
Senkt sich aber ein Wolkenvorhang auf
das schöne Bild – und seit einer Woche
geschieht es leider ziemlich oft –, so
muss man etwas für seine Bildung
tun. In einem solchen Augenblick entdeckte ich in einer sechzehnjährigen
Nummer des „Simplicissimus“ die folgende Tiefsinnigkeit:
„Es gibt Schriftsteller, ❊
die die
Tinte nicht halten können.“
Dass seitdem das Bildungsniveau der
Journalisten sich nicht in dem Maße
gehoben hat, wie man zu erwarten
in unserer herrlichen Zeit berechtigt
wäre, beweist wiederum und zum Beispiel
dieser Satz – den ich einer in den „Münchner
Neuesten“ erschienenen Kritik über Mereschkowskji entnehme –:
Wie gefällt Ihnen das „sogar“?
Nein, die ästhetische „Ultima Ratio“ ist und
bleibt ein Geheimnis. Man muss sich, mit
Wilhelm Busch, mit der realen Erkenntnis
begnügen:
Entschuldigen Sie bitte diese Zitatenwut.
Wir werden voraussichtlich am 1. September in
Zürich sein. Kann ich hoffen, Sie dort
noch zu finden, oder werden Sie schon
vorher nach Berlin abreisen?
Wir würden uns sehr freuen, Nachrichten
von Ihnen zu erhalten; ich schicke Ihnen
anbei ein Bild des Bibliotheksaals im
Hause meines Schwiegervaters; einige
Fresken darin sind noch gut erhalten. Die
Bücher aber sind alle nach München
gewandert.
Herzlichste Grüße von uns beiden, auch
an Frau Busoni.
Ihr treu ergebener
PHJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).
❊ Und warum nicht auch Musiker?
Z. B. Othmar Ranudo?
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Bei schönem Wetter ist Polling ideal; die
Umgebung bietet – in nächster Nähe –
alle Abstufungen des Landschaftlichen;
milde Hügelwellen beleben die Ebene, ohne
den Horizont zu verkürzen, alle Linien
fliessen ineinander, wie grüne Arabesken.
Wald und Wiesen gleichen einem unendlichen
Park voll harmonischer Ruhe, Anmut
und Stärke.
Senkt sich aber ein Wolkenvorhang auf
das schöne Bild – und seit einer Woche
geschieht es leider ziemlich oft, – so
muss man etwas für seine Bildung
tun. In einem solchen Augenblick ent⸗ deckte ich in einer sechzehnjährigen
Nummer des „Simplicissimus“ die fol⸗ gende Tiefsinnigkeit:
„Es gibt Schriftsteller (I)
die die
Tinte nicht halten können.“
Dass seitdem das Bildungsniveau der
Journalisten sich nicht in dem Maasse
gehoben hat, wie man zu erwarten
in unserer herrlichen Zeit berechtigt
(I) Und warum nicht auch Musiker?
z. B. Othmar Ranudo?
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wäre, beweist wiederum und zum Beispiel
dieser Satz – den ich einer in den „Münchner
Neuesten“ erschienenen Kritik über Meresch⸗ kowskji entnehme –:
Wie gefällt Ihnen das „sogar“?
Nein, die aesthetische „ultima ratio“ ist und
bleibt ein Geheimnis. Man muss sich, mit
Wilhelm Busch, mit der realen Erkenntnis
begnügen:
Entschuldigen Sie, bitte, diese Zitatenwut.
Wir werden voraussichtlich am 1. Sept. in
Zürich sein. Kann ich hoffen, Sie dort
noch zu finden, oder werden Sie schon
vorher nach Berlin abreisen?
Wir würden uns sehr freuen, Nachrichten
von Ihnen zu erhalten; ich schicke Ihnen
anbei ein Bild des Bibliotheksaals im
Hause meines Schwiegervaters; einige
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Fresken darin sind noch gut erhalten. Die
Bücher aber sind alle nach München
gewandert.
Herzlichste Grüsse von uns beiden, auch
an Frau Busoni.
Ihr treu ergebener
PHJ.
Transkription unsicher.
Alternative Lesart:
PRJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).
Preußischer
Staats⸗ bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
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Fresken darin sind noch gut erhalten. Die
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[Ansicht des Bibliotheksaals im Kloster Polling]
Ehemaliger Kloster=Bibliotheksaal
im Streicher’schen Hause zu Polling
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<figDesc>Ansicht des <placeName key="E0500824">Bibliotheksaals</placeName> im <placeName key="E0500823">Kloster <placeName key="E0500707">Polling</placeName></placeName></figDesc>
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zu N.Mus.Nachl. 30, 116
Preußischer
Staats⸗ bibliothek
zu Berlin
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