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N.Mus.Nachl. 30, 117
Mein lieber, verehrter Meister!
Der Freude, die ich empfand, als mir Ihr
Brief übergeben wurde, folgte eine kleine Ent⸗ täsuchung; denn ich fand in ihm nicht ganz
den gewohnten, herzlichen Klang. Daran ist
vielleicht, wie Sie mir leise andeuten, mein
eigenes Schreiben schuld: das kann ich nicht
gut beurteilen. Ich glaube, Sie trauen immer
noch nicht ganz der Beständigkeit meiner
menschlichen und künstlerischen Gesinnung,
Ihnen gegenüber; damit muss ich mich wohl
abfinden, und es der Zeit überlassen, Ihre
Meinung hierüber zu festigen. Auch bin ich
nicht so unbescheiden, Ansprüche auf Ihre
Gefühle zu erheben. Weiss ich doch, dass
wir immer wieder zusammenkommen
werden, – auf Gebieten „interdits au
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Mein lieber, verehrter Meister!
Der Freude, die ich empfand, als mir Ihr
Brief übergeben wurde, folgte eine kleine Enttäsuchung; denn ich fand in ihm nicht ganz
den gewohnten, herzlichen Klang. Daran ist
vielleicht, wie Sie mir leise andeuten, mein
eigenes Schreiben schuld: das kann ich nicht
gut beurteilen. Ich glaube, Sie trauen immer
noch nicht ganz der Beständigkeit meiner
menschlichen und künstlerischen Gesinnung,
Ihnen gegenüber; damit muss ich mich wohl
abfinden und es der Zeit überlassen, Ihre
Meinung hierüber zu festigen. Auch bin ich
nicht so unbescheiden, Ansprüche auf Ihre
Gefühle zu erheben. Weiß ich doch, dass
wir immer wieder zusammenkommen
werden – auf Gebieten „interdits au
vulgaire.“ –
Frz.: „den Niederen untersagt“ bzw. „den Gewöhnlichen unzugänglich“.
Ich danke Ihnen für den Hinweis auf Bekkers
Aufsatz; ich werde ihn mir verschaffen. Dieser
Mann ist voller Widersprüche. Im Grunde ist er
vielleicht ein Dogmatiker; aber manchmal
schießt er plötzlich ins Freie und wird dann
äußerst interessant; seine intuitive Begabung
bringt ihn oft auf die rechte Spur. Er wird
vielleicht dazu kommen, den Soziologen und
Literaten in sich zu besiegen – wenn er die
Idee der „gesellschaftsbildenden Kräfte“ nebst
anderen überlieferten und selbstkonstruierten
Begriffen ein für allemal aufgibt.
Ich muss Ihnen noch berichten, dass
ich diese Tage die Partitur von „Romeo
und Julia“ durchlas. Es ist dies vielleicht das
struppigste von allen mir bekannten Werken
Berlioz’. Widerliche Grobheiten gibt es darin.
Aber die dichterische Vision ist von so ungeheuerer Kraft, dass ich davon vollständig
betäubt wurde. Ich habe da etwas Erschütterndes erlebt, das umso unerwarteter kam,
als ich vom Prolog so gar nicht erbaut war.
Es sind im Wesentlichen vier Sätze:
Von den insgesamt sieben Sätzen nennt Jarnach die Nummern 3, 4, 5 und 7.
Der Garten
Capulets, – Königin Mab, – Der Grabgesang
und das Finale, die mir diesen tiefen Eindruck machten, und zwar in steigender Linie.
Wie kommt es, dass ich früher taub war
für diese unerhörte Kunst? Es ist alles so
unmittelbar, so synthetisch und von so grandioser Sicherheit in den einmal gewählten
Ausdrucksformen! Trotz aller altmodischen
Wendungen, trotz aller erborgten Mittel ist
dieser Mann der absoluten Freiheit näher
gekommen als alle anderen. Und ein solches
Übermaß an Empfindung war in ihm,
dass man nicht begreift, wie es ihn nicht
schon als Knabe zerrissen hat.
Unbegreiflicher ist es allerdings, dass man
fortfährt, Wagner und Brahms als die
Propheten des XIX. Jahrhunderts hinzustellen.
Und das ist eine weniger beglückende Konstatierung. Alles ist besser als dieses unerträgliche,
feige, dickwanstige Eunuchentum, und selbst
die wilde Arena, von der Sie sprechen, ist
ein Paradies dagegen; es ist doch wenigstens
eine Möglichkeit vorhanden, dass frische
Luft hereinströmt!
Die herzlichsten Grüße von uns beiden,
auch an Frau Busoni
Ihr
PHJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).
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Frz.: „den Niederen untersagt“ bzw. „den Gewöhnlichen unzugänglich“.
Ich danke Ihnen für den Hinweis auf Bekkers
Aufsatz; ich werde ihn mir verschaffen. Dieser
Mann ist voller Widersprüche. Im Grunde ist er
vielleicht ein Dogmatiker; aber manchmal
schiesst er plötzlich ins Freie und wird dann
äusserst interessant; seine intuitive Begabung
bringt ihn oft auf die rechte Spur. Er wird
vielleicht dazu kommen, den Soziologen und
Literaten in sich zu besiegen, – wenn er die
Idee der „gesellschaftsbildenden Kräfte“, nebst
anderen überlieferten und selbstkonstruierten
Begriffen ein für allemal aufgibt.
Ich muss Ihnen noch berichten, dass
ich diese Tage die Partitur von „Romeo
und Julia“ durchlas. Es ist dies vielleicht das
struppigste von allen mir bekannten Werke[n]
Berlioz’. Widerliche Grobheiten gibt es darin.
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betaübt wurde. Ich habe da etwas Erschüttern⸗ des erlebt, das um so unerwarteter kam
als ich vom Prolog so gar nicht erbaut war.
Es sind im Wesentlichen vier Sätze:
Von den insgesamt sieben Sätzen nennt Jarnach die Nummern 3, 4, 5 und 7.
Der Garten
Capulets, – Königin Mab, – Der Grabgesang
und das Finale, die mir diesen tiefen Ein⸗ druck machten, und zwar in steigender Linie.
Wie kommt es, dass ich früher taub war
für diese unerhörte Kunst? Es ist alles so
unmittelbar, so synthetisch und von so gran⸗ dioser Sicherheit in den einmal gewählten
Ausdrucksformen! Trotz aller altmodischen
Wendungen, trotz aller erborgten Mittel ist
dieser Mann der absoluten Freiheit näher
gekommen als alle anderen. Und ein solches
Uebermass an Empfindung war in ihm,
dass man nicht begreift, wie es ihn nicht
schon als Knabe zerrissen hat.
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feige, dickwanstige Eunuchentum, und selbst
die wilde Arena von der Sie sprechen, ist
ein Paradies dagegen; es ist doch wenigstens
eine Möglichkeit vorhanden, dass frische
Luft hereinströmt!
Die herzlichsten Grüsse von uns beiden,
auch an Frau Busoni
Ihr
PHJ.
Transkription unsicher.
Alternative Lesart:
PRJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).
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Preußischer
Staats⸗ bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
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