Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Zürich · 23. August 1918

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Mus.ep. L. Rubiner 26 (Busoni-Nachl. B II)
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4285
Freitag morgen.1)
(23.8.1918)

Lieber Herr Busoni!

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Auf dem Wege nach Spiez. (Und nicht in meiner Schuld, wenn ich Sie vorher nicht mehr sah.)

Ich las Goetzens Novelle Es ist unklar, um welche Novelle es sich dabei handeln könnte. Götz veröffentlichte seine ersten Novellen-Sammlungen erst im Jahr 1948: Der siebenköpfige Drache und Der Punkt zwischen den Augen. (las sie, bekam sie
nicht vorgelesen, was sicher ablenkend wirken
würde). Und halt mich für verpflichtet, Ihnen
Nachricht zu geben – wovon Goetz natürlich nichts
weiß.

Diese Novelle – Welten trennen mich von
ihr! – ist entzückend! Sie hat nichts mit
Hoffmann u. Poe zu tun, sondern sie ist
direkteste, blutsverwandte (unbeeinflusste)
Nachfolge von Eichendorff. (Welten trennen
mich davon?) – Gäbe es Gerechtigkeit, müsste
Götz in der deutschen Literatur darauf hin
als Dichter berühmt werden. Ich habe das
nie von ihm erwartet. Eine unerschöpflich
quellende, romantische Phantasie (die garnicht
im Flaubert-Goncourtschen, impressionistischen
Stil, oder womöglich im Ausdrucks-Stil von
mir u. meiner Generation gehalten sein darf!)

Freitag morgen.

Lieber Herr Busoni!

Auf dem Wege nach Spiez. (Und nicht in meiner Schuld, wenn ich Sie vorher nicht mehr sah.)

Ich las Goetzens Novelle Es ist unklar, um welche Novelle es sich dabei handeln könnte. Götz veröffentlichte seine ersten Novellen-Sammlungen erst im Jahr 1948: Der siebenköpfige Drache und Der Punkt zwischen den Augen. (las sie, bekam sie nicht vorgelesen, was sicher ablenkend wirken würde). Und halt mich für verpflichtet, Ihnen Nachricht zu geben – wovon Goetz natürlich nichts weiß.

Diese Novelle – Welten trennen mich von ihr! – ist entzückend! Sie hat nichts mit Hoffmann und Poe zu tun, sondern sie ist direkteste, blutsverwandte (unbeeinflusste) Nachfolge von Eichendorff. (Welten trennen mich davon?) – Gäbe es Gerechtigkeit, müsste Götz in der deutschen Literatur daraufhin als Dichter berühmt werden. Ich habe das nie von ihm erwartet. Eine unerschöpflich quellende, romantische Phantasie (die gar nicht im Flaubert-Goncourtschen, impressionistischen Stil, oder womöglich im Ausdrucks-Stil von mir und meiner Generation gehalten sein darf!)

Eine erstaunliche und ungewöhnliche Naivität spricht aus jeder Zeile – und der Verfasser dieses Werkes ist der „Künstler“, von dem Sie oft sprechen, die Sie oft so hoch stellen (und von dem mich Welten trennen und trennen sollen, jeden Tag mehr. Warum? Weil ich für die einzige Aufgabe des Schaffenden halte, die vor 2000 Jahren vor Christus lebendig und aktuell gemachten Erkenntnisse je nach der neuen Ausdrucks- und Lebenskraft der Zeit in ihrer Lebendigkeit plastisch darzustellen. [das hat natürlich nichts mit Dogma, Kirche etc. zu tun. Und Christus nenne ich, um abzukürzen]. Also Konflikte des ewigen Menschen in höchster Abstraktion! Darum stehe ich auch so fern von der grundlosen Naivität, die für mich dasselbe Ferne ist, wie für Schopenhauer der grundlose Optimismus.)–

Wäre ich ein reicher Mann, so würde ich Goetzen die Mittel gewähren, diese Novelle zu Ende zu schreiben. Ich darf Ihnen das sagen, ohne dass Sie darin eine verdeckte Aufforderung erblicken, denn ich weiß, Sie sind kein reicher Mann. Ich sage dies nur, um meinen Eindruck vom „Dachkammer-Poeten“ auszudrücken. Leider weiß ich in meinen Kreisen auch niemanden, den ich für Unterstützung der Goetzschen Arbeit mobilisieren könnte, weil man in diesen Kreisen, so oder so, meine Interessen teilt.

Die Novelle von Goetz ist übrigens auch voll von instinktiven okkulten Erkenntnissen. Er kann nichts dafür, es strömt ihm zu. Könnte er eine Zeit lang schaffen, er wäre in Kurzem ein vielgelesener und geradezu berühmter Dichter (außerhalb des heutigen und morgigen Empfindens). Berühmt nach seinen Werken allein, als liebenswerte Natur, als Andersen ohne Spitze. Neu-Eichendorff ohne literarische Abhängigkeit von Eichendorff. Man muss aber offenbar die Sache mit eigenen Augen lesen. —

Dies ist mein Urteil über Goetzens Arbeit vom Standpunkte der kindlichen Naivität aus – jener Standpunkt, der mir weniger sympathisch als Ihnen, weil er das was heute geschieht, weder zu verhindern noch zu befördern versuchte. Eine ganze Welt (den

eine mir immer festehende, nämlich das künstlerisch gesinnte Bürgertum, ist aber das Publikum für solche Dichtungen.

Goetz spricht gewiss zu vielen tausenden Jungen von reizenden Damen und auch ebenso netten – wenn auch Kriege befindlichen Herren.

Der Dichter ist unser persönlicher Freund. Also, warum sollen wir diesem Publikum (für das man Theater, Oper- und Konzertaufführungen macht, und dem man sich ja sklavisch beugt) diesem Publikum – solange es überhaupt noch besteht....! – nicht seinen wirklichen Dichter gönnen? Man soll es. Und was bei mir steht, so will ich Goetzen persönlich helfen. —

Ach, ach, und darum (es hat nicht allein mit Goetz mehr zu tun) und darum das neutrale Land? Und darum der geheiligte Boden der internationalen europäischen Erhebungen und der in die Zukunft schauenden Erkenntnisse, und der absoluten und deutlich ausgesprochenen Ablehnung jedes Zwanges!? Nur darum, um ein Hock- und Satt-Ess-Asyl zu bilden mit Schweizer Tonfall? Nein, Nein, Nein! Konflikte von vor 2000 Jahren stehen auf!

Herzlichsten Händedruck

Ihr Freund Ludwig Rubiner

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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2)

Eine erstaunliche und ungewöhnliche Naivität
spricht aus jeder Zeile – und der Verfasser
dieses Werkes ist der „Künstler“, von dem Sie
oft sprechen, die Sie oft so hoch stellen (und
von dem mich Welten trennen u. trennen
sollen, jeden Tag mehr. Warum? Weil ich für
die einzige Aufgabe des Schaffenden halte, die
vor 2000 Jahren vor Christus lebendig
und aktuell gemachten Erkenntnisse je
nach der neuen Ausdrucks- und Lebenskraft
der Zeit in ihrer […] 1 Wort: unleserlich. Lebendigkeit
plastisch darzustellen. [das hat natürlich nichts
mit Dogma, Kirche etc. zu tun. Und Christus
nenne ich, um abzukürzen]. Also Konflikte des
ewigen Menschen in höchster Abstraktion!
Darum stehe ich auch so fern von der grundlosen
Naivität, die für mich dasselbe Ferne ist, wie für
Schopenhauer der grundlose Optimismus.)–

Wäre ich ein reicher Mann, so würde ich
Goetzen die Mittel gewähren, diese Novelle
zu Ende zu schreiben. Ich darf Ihnen
das sagen, ohne dass Sie darin eine verdeckte
Aufforderung erblicken, denn ich weis, Sie sind
kein reicher Mann. Ich sage dies nur, um
meinen Eindruck vom „Dachkammer-Poeten“ aus-

                                                                
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BII 4285
3)
zudrücken.
Leider weis ich in meinen Kreisen auch
niemanden, den ich für Unterstützung der
Goetzschen Arbeit interessierenmobilisieren könnte, weil
man in diesen Kreisen, so oder so, meine Interessen teilt.

Die Novelle von Goetz ist übrigens auch
voll, von instinktiven occulten Erkenntnissen.
Er kann nichts dafür, es strömt ihm zu.
Könnte er eine Zeitlang schaffen, er wäre
in Kurzem ein vielgelesener und geradezu
berühmter Dichter (ausserhalb des heutigen
und morgigen Empfindens). Berühmt nach
seinen Werken allein, als liebenswerte Natur,
als Andersen ohne Spitze. Neu-Eichendorf[f]
ohne literarische Abhängigkeit von Eichendorf[f].
Man muss aber offenbar die Sache mit eigenen
Augen lesen. —

Dies ist mein Urteil über Goetzens
Arbeit vom Standpunkte der kindlichen
Naivität aus – jener Standpunkt, der
mir weniger sympathisch als Ihnen,
weil er das was heute geschieht, weder
zu verhindern noch zu befördern
versuchte. Eine ganze Welt (den

                                                                
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4Diplomatische Umschrift
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4)

eine mir immer festehende, nämlich
das künstlerisch gesinnte Bürgertum,
ist aber das Publikum für solche Dichtungen.

Goetz spricht gewiss zu vielen tausenden
Jungen von reizenden Damen und auch
ebenso netten – wenn auch Kriege befindlichen
Herren.

Der Dichter ist unser persönlicher Freund.
Also, warum sollen wir diesem Publikum
(für das man Theater, Oper- u. Konzertaufführun-
gen macht, u. dem man sich ja sklavisch beugt)
diesem Publikum – solange es überhaupt
noch besteht....! – nicht seinen wirklichen
Dichter gönnen? Man soll es. Und was
bei mir steht, so will ich Goetzen persönlich
helfen. —

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Ach, ach, und darum (es hat nicht allein mit
Goetz mehr zu tun) und darum das neutrale
Land? Und darum der geheiligte Boden
der internationalen europäischen Erhebungen
und der in die Zukunft schauenden Erkenntnisse,
und der absoluten u. deutlich ausgesprochenen
Ablehnung jedes Zwanges!? Nur darum, um ein
Hock- u. Satt-Ess-Asyl zu bilden mit Schwyzer
Tonfall? Nein, Nein, Nein! Konflikte von vor
2000 Jahren stehen auf! Herzlichsten Händedruck

Ihr Freund Ludwig Rubiner

                                                                
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6Diplomatische Umschrift
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Zeit-Echo
Herausgeber: Ludwig Rubiner
Zürich VI/ Hadlauer Str. 11

Nachlaß BusoniB II
Mus.ep. L. Rubiner 26

Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4285 Beil.

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, D0100328 | olim: Mus.ep. L. Rubiner 26(Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist guterhalten.
Umfang
2 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456

Zusammenfassung
Rubiner äußert sich zu der neuen Novelle Goetzens; Er bedauert die schlechte wirtschaftliche Lage des Künstlers und äußert den Wunsch ihn unterstützen zu können. Rubiner Busoni
Incipit
Auf dem Wege nach Spiez.

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
21. Februar 2018: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition