Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward

Zürich · 13. August 1920

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Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30,64
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L J., ich möchte nicht dass Sie bei dem Eindruck
blieben, dass mein Schreiben u. Empfinden
zu Ihnen kühl sei: hätten Sie Ihren eigenen
Brief
empfangen, o Philipp, so hätten Sie
die Schnur der Verbindung die er darstellte
nicht als Zündschnur auf Sie gewirkt. Um
so schöner war der zweite Brief, namentlich
über Berlioz, was mich allerherzlichst erfreute.
Diese Menschen von 1830 hatten, ausser ihrem
angeborenen Genie, eine günstige Zeit in die
sie traten. Hatte die Reaktion gegen die Spi
barokken Spielereien des Rokoko die Grösse
aber auch die ernste Kälte erzeugt (Empire), – so
hatte die Reaktion gegen diese Steifheit –
(der Sieg des Temperaments) – doch den
Hintergrund der Grösse, die das Empire ihr
anerzogen hatte. Temperament u. Subjektivität
die nicht auf grossen Verhältnissen gebracht,
die die Antike nie ganz verlassenverleugnen konnten,
schufen Berlioz, Delacroix u. Victor Hugo.
Ich glaube, dass diese Drei – (nebst Balzac?) –
meine Argument erschöpfend illustrieren
u. dass sie zusammen eine Einheit geben.
Zu ihnen gehören, als Ausläufer, noch ---
Meyerbeer u. selbst Wagner; bei denen In der Übersetzung bei Beaumont 1987 (320) wird die Bezugnahme auf Wagner verengt („in his case“). aber
Dekadenz u. Konventionalismus das Unbändige
ersetzen, u. Jüdisch=Germanisches noch
mehr verdirbt. – Der Abstieg dieses Weges
mündet in Gustav Mahler. Wie reinlich
steht, u. recht einzeln, Franz Liszt, der
welt-männisch-katholische Idealist! –

– Nun gehen wir einer Reaktion entgegen,
und wir müssen wieder die Strengen spielen.
Eine sehr schöne Kunst wird erstehen, und
Sie werden sie noch bewusst erleben, an
ihr mit arbeiten. Es gilt zu vollenden,
was alle Experimente dieser 20 Jahre anbahnten.
Das Wort “vollenden” ist hier absichtlich
gewählt. Es bedeutet zu Ende führen,
zusammenfassen, zur Vollkommenheit bringen. Beaumont 1987 (321) übersetzt abweichend: „to bring to a conclusion, to consolidate, to say the last word.“
[am linken Rand, längs:]
Diese Wendung des Wegs führt zu einer weiten – wenn auch
begrenzten – Rundung. Die Übersetzung „turning point“ („Wendepunkt“) bei Beaumont 1987 (321) verfehlt das hier Gemeinte („Abrundung“). Ich möchte Sie so gerne in Berlin
haben, auf dass Sie an Allem theilnähmen und selbst sich ent-
falteten! – Diesen Winter wird Egon Petri in Basel residieren. Schade,

L J.,

ich möchte nicht, dass Sie bei dem Eindruck blieben, dass mein Schreiben und Empfinden zu Ihnen kühl sei: Hätten Sie Ihren eigenen Brief empfangen, o Philipp, so hätte die Schnur der Verbindung, die er darstellte, nicht als Zündschnur auf Sie gewirkt. Umso schöner war der zweite Brief, namentlich über Berlioz, was mich allerherzlichst erfreute. Diese Menschen von 1830 hatten, außer ihrem angeborenen Genie, eine günstige Zeit, in die sie traten. Hatte die Reaktion gegen die barocken Spielereien des Rokoko die Größe, aber auch die ernste Kälte erzeugt (Empire), – so hatte die Reaktion gegen diese Steifheit – (der Sieg des Temperaments) – doch den Hintergrund der Größe, die das Empire ihr anerzogen hatte. Temperament und Subjektivität, auf große Verhältnisse gebracht, die die Antike nie ganz verleugnen konnten, schufen Berlioz, Delacroix und Victor Hugo. Ich glaube, dass diese Drei – (nebst Balzac?) – mein Argument erschöpfend illustrieren und dass sie zusammen eine Einheit geben. Zu ihnen gehören, als Ausläufer, noch --- Meyerbeer und selbst Wagner; bei denen aber Dekadenz und Konventionalismus das Unbändige ersetzen und Jüdisch-Germanisches noch mehr verdirbt. – Der Abstieg dieses Weges mündet in Gustav Mahler. Wie reinlich steht, und recht einzeln, Franz Liszt, der weltmännisch-katholische Idealist!

Nun gehen wir einer Reaktion entgegen, und wir müssen wieder die Strengen spielen. Eine sehr schöne Kunst wird erstehen, und Sie werden sie noch bewusst erleben, an ihr mitarbeiten. Es gilt zu vollenden, was alle Experimente dieser 20 Jahre anbahnten. Das Wort „vollenden“ ist hier absichtlich gewählt. Es bedeutet zu Ende führen, zusammenfassen, zur Vollkommenheit bringen. Diese Wendung des Wegs führt zu einer weiten – wenn auch begrenzten – Rundung. Ich möchte Sie so gerne in Berlin haben, auf dass Sie an allem teilnähmen und selbst sich entfalteten! – Diesen Winter wird Egon Petri in Basel residieren. Schade, dass Basel und Zürich so getrennt sind, dass diese Nähe für jeden von Ihnen, Phlipp und Egon, fast nichts besagt. – In Bayern wird man lange Bayreuth als Hauptstadt halten. Schon solche Namen wie Weil-Heim scheinen dem Meister huldigen“ zu wollen:

Hier wo mein Weilen heimisch ward
Weil-Heim sei das Wort gepaart. Das Wortspiel mit dem Ortsnamen und das zugehörige Verspaar parodieren Richard Wagners Namensgebung für seine Bayreuther Villa Wahnfried mit der Inschrift: „Hier wo mein Wähnen Frieden fand – Wahnfried – sei dieses Haus von mir benannt.“

– Am Samstag den 21. werde ich noch ein bescheidenes Abschiedfeiern haben: eine Orchesterprobe des Flötenstücks. Wann kommen Sie zurück?

Und nun leben Sie wohl und zweifeln Sie nie an die brüderliche Liebe Ihres Sie hochschätzenden

F. Busoni

13. Aug. 1920.

Chantavoine hat mir einen Klavierauszug des Arlecchino mit unterlegtem vollständigem französischen Text ausgestattet. (Sehr hübsch.)

An Frau Barbara Hand und Hals Kuss von ihrem sehr herzlich Ergebenen.

Ich bin mit der Komposition einer Klaviertoccata (dreisätzig) fast fertig.

                                                                
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Hier wo mein Weilen heimisch ward
Weil-Heim sei das Wort gepaart. Das Wortspiel mit dem Ortsnamen und das zugehörige Verspaar parodieren Richard Wagners Namensgebung für seine Bayreuther Villa Wahnfried mit der Inschrift: „Hier wo mein Wähnen Frieden fand – Wahnfried – sei dieses Haus von mir benannt.“

– Am Samstag den 21. werde ich
noch ein bescheidenes Abschiedfeiern
haben: eine OrchesterProbe des Flöten Stücks.
Wann kommen Sie zurück?

Und nun leben Sie wohl und
zweifeln Sie nie an die brüderliche
Liebe Ihres Sie hochschätzenden

F. Busoni

13. Aug. 1920.

Chantavoine hat mir einen Clavier-
Auszug des Arlecchino mit unter-
legtem vollständigem französischen
Text ausgestattet. (Sehr hübsch).

An Frau Barbara Hand und
Hals Kuss von ihrem sehr
herzlich Ergebenen.

Ich bin b mit der Komposition
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,64 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
2 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Zusammenfassung
Busoni versteht Hector Berlioz, Eugène Delacroix und Victor Hugo als Einheit und ihre Verbindung von „Temperament und Subjektivität“ als eine „Reaktion gegen die barocken Spielereien des Rokoko“ unter Wahrung der „Größe“ des Empire-Stils (als deren „Ausläufer“ seien Meyerbeer und Wagner bereits von „Dekadenz und Konventionalismus“ geprägt); erwartet für die Gegenwart wiederum eine „Reaktion“ („Es gilt zu vollenden, was alle Experimente dieser 20 Jahre anbahnten.“); beklagt die ideelle Distanz zwischen Basel und Zürich; betreibt Wortspiele mit dem Ortsnamen Weilheim; vesteht eine anstehende Orchesterprobe seines Flöten-Divertimentos als „Abschiedfeiern“; hat von Chantavoine einen Arlecchino-Klavierauszug mit französischer Übersetzung erhalten; hat die Toccata für Klavier „fast fertig“.
Incipit
ich möchte nicht, dass Sie bei dem Eindruck blieben

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
18. August 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Beaumont 1987, S. 320 f.