Ferruccio Busoni to Ludwig Rubiner arrow_back

London · November 29, 1919

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Mus.Nachl. F. Busoni B I, 1016
Mus.ep. F. Busoni 810
(Busoni-Nachl. B I)
London, 29. Nov. 1919

Mein lieber Rubiner, heute – da
ich Ihren Brief vom 20. empfange, – sind
die 8 Tage, die Sie sich vorbehaielten,
erloschen. Nach diesem Maass der Post⸗
bewegung gemessen, wird es ange-
zeigt sein, dass Sie Ihren nächsten Brief
nach Zürich richten, alswo ich Mitte
Dezember wieder zu sein hoffe. – Die
“grosse Welt” in der zu leben Sie
mir an-er-dichten, ist nicht mehr.
Mit dem Fallen aristokratischer
Prinzipien wird löst sich die impo Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
-
=sante u. mysteriöse Masse in
einzelne kleine u. gewöhnliche Existenzen
u. Interessen auf; wenigstens werdekann
ich hier in London keinen Ei anderen
Eindruck gewinnen, suche vergebens
mir den ersten, schöneren, aus der Erinner-
ung zu rekonstruieren, und ihn auf
das gegenwärtige Bild zu heften. Es
gelingt mir nicht: – Die Menschen sind
in der That hässlicher, uneleganter,
ihr Ausdruck ist frech und gewöhnlich,
der gute Ton vernachlässigt und[1]

London, 29. Nov. 1919

Mein lieber Rubiner,

heute – da ich Ihren Brief vom 20. empfange – sind die acht Tage, die Sie sich vorbehielten, erloschen. Nach diesem Maß der Postbewegung gemessen, wird es angezeigt sein, dass Sie Ihren nächsten Brief nach Zürich richten, alswo ich Mitte Dezember wieder zu sein hoffe. – Die „große Welt“, in der zu leben Sie mir an-er-dichten, ist nicht mehr. Mit dem Fallen aristokratischer Prinzipien löst sich die imposante und mysteriöse Masse in einzelne kleine und gewöhnliche Existenzen und Interessen auf; wenigstens kann ich hier in London keinen anderen Eindruck gewinnen, suche vergebens mir den ersten, schöneren aus der Erinnerung zu rekonstruieren und ihn auf das gegenwärtige Bild zu heften. Es gelingt mir nicht: Die Menschen sind in der Tat hässlicher, uneleganter, ihr Ausdruck ist frech und gewöhnlich, der gute Ton vernachlässigt und oft gänzlich außer Acht gelassen; daß es 32 mal mehr Menschen sind als in Zürich, Busonis Rechnung entspricht recht genau den Bevölkerungszahlen im Jahr 1919 (Greater London: etwas über 7 Millionen; Zürich: ca. 210.000; vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Zürich 1918/1919, S. 172). macht sie nicht bedeutender noch interessanter. – Zur Unabhängigkeit sind sie noch nicht reif, es gibt ein Übergewicht von brutalen Instinkten, die streng überwacht werden müssen. Den Fehler, den ich als Musikprediger mache, indem ich, beim Durchschnitt, die Vorbereitung voraussetze, die in mir selber vorhanden ist – diesen Fehler begehen die sozialen Verbesserer. Ich liebe daran das Vertrauen und den Idealismus: – aber während die Aufklärung in Kunstdingen niemandem ans Leben geht, kann sie in Sachen der Gesellschaftsordnung alles entstellen.

Von dem Erlebnis Ihrer Frau hatte ich gehört: Eine Mrs. Haring, die Sie besucht haben soll, brachte die Zeitung. Ich bedauere es herzlich und erwarte ebenso bessere Nachrichten.

Gestern erhielt ich einen Brief von Bernard Shaw, der mich erfreute und anregte: „Sie sollten“ – schreibt B.S.„unter einem angenommenen Namen als Komponist auftreten. Die Menschen können nicht glauben, dass ein Einzelner zwei Sachen gleich vollkommen meistere“. Nach der englischen Premiere von Sarabande und Cortège am 22. November 1919 erhielt Busoni diesen begeisterten Brief Shaws (Eintrag im Kalliope-Verbundkatalog; vgl. Willimann 1994, S. 112).

Ihr Aufschub und Zögern in unserer Verlagsangelegenheit macht mich betroffen: Ich hatte die Auffassung, dass ich der Bestürmte gewesen wäre; nun erscheint die Lage so, als ob ich den Verlag um etwas bäte. Diese Interpretation muss ich ablehnen.

In meinem Sinne lauten Ihre Briefe und Äußerungen, wie sie Rita mir übermittelte. Von ihr bin ich – warum? – seit einiger Zeit wie abgeschnitten. Erst als ich Ihnen schrieb, hatte ich erfahren, dass man mit Berlin direkt korrespondieren könne. Umso willkommener war es mir zu lesen, dass Rita Ihnen eine hilfreiche Gefährtin ist – grüßen Sie sie in aller Freundschaft und Liebe.

Das Nämliche gilt Ihnen

von Ihrem herzlich ergebenen

F. Busoni

                                                                
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B I, 1016

oftmeist gänzlich außer Acht gelassen; –
dass es 32 mal mehr Menschen sind,
als in Zürich, Busonis Rechnung entspricht recht genau den Bevölkerungszahlen im Jahr 1919 (Greater London: etwas über 7 Millionen; Zürich: ca. 210.000; vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Zürich 1918/1919, S. 172). macht sie nicht bedeutender,
noch interessanter. – Zur Unabhängigkeit
sind dsie Menschen noch nicht reif, es gibt
ein Übergewicht von brutalen Instinkten,
die streng überwacht werden müssen. Den
Fehler, den ich als MusikPrediger mache, in
dem ich, beim Durchschnitt, die Vorbereitung
voraussetze, die in mir selber vorhanden ist, –
diesen Fehler machen begehen die sozialen Ver-
besserer. Ich liebe daran das Vertrauen
u. den Idealismus: – aber während die
Aufklärung in KunstDingen niemanden
an’s Leben geht, kann sie in Sachen der Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Gesellschaftsordnung Alles entstellen. und

Von dem Erlebnis Ihrer Frau hatte
ich gehört: eine Mrs. Haring, die Sie besucht
haben soll, brachte die Zeitung. Ich bedauere
es herzlich und erwarte ebenso bessere Nach-
-richten. –

Gestern erhielt ich einen Brief von
Bernard Shaw, der mich erfreute und
anregte: „Sie sollten“ – schreibt B.S.„unter
einem angenommenemn Namen als Componist auftreten.
Die Menschen können nicht glauben, dass ein
Einzelnenr zwei Sachen gleich vollkommen meistere“
. Nach der englischen Premiere von Sarabande und Cortège am 22. November 1919 erhielt Busoni diesen begeisterten Brief Shaws (Eintrag im Kalliope-Verbundkatalog; vgl. Willimann 1994, S. 112).

[2]
                                                                
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B I, 1016

Ihr Aufschub und Zögern in
unserer Verlags Angelegenheit macht
mich betroffen: ich hatte die Auf-
-fassung, als ob ich dass ich der
Bestürmte gewesen wäre; nun er-
-scheint die Lage so, als ob ich
den Verlag um Etwas bäte. Diese
Interpretation muss ich ablehnen.

– In meinem Sinne lauten
Ihre Briefe und Aüsserungen, wie
sie Rita mir übermittelte. Von
ihr bin ich – warum? – seit einiger
Zeit wie abgeschnitten. Erst als
ich Ihnen schrieb hatte ich erfahren
dass man mit B. direkt korrespondieren
könne –. Um so willkommener
war es mir zu lesen, dass R. Ihnen
eine hilfreiche Gefährtin ist, – grüssen
Sie sie in aller Freundschaft und Liebe.

Das nämliche gilt Ihnen

von Ihrem herzlich ergebenen

F. Busoni

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
[3]
                                                                
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Germany.
St. Johns Wood N.W. 8
8. 15 PM
28 Nov 19
Herrn Ludwig Rubiner
Viktoria Luise Platz 11
bei Busoni
Berlin, W.30.
IV r
                                                                
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Dr F. Busoni
West Wing
Regent’s Park
_.NW._
Mus.Nachl. F. Busoni B I, 1016-Beil.
Nachlaß Busoni B I
Mus.ep. F. Busoni 810
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
                                                                
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Document

doneStatus: candidate XML Facsimile Download / Cite

Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B I, 1016 | olim: Mus.ep. F. Busoni 810 (Busoni-Nachl. B I) |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss oben (ohne Textverlust).
Extent
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Collation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
  • Unbekannte Hand, die auf der Umschlagvorderseite mit Bleistift das Kürzel (IV r) notiert hat.
Image source
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12345678

Summary
Busoni ist enttäuscht von Unreife und Rohheit der Londoner Bevölkerung; hat von der Verhaftung Frida Rubiners erfahren; entnimmt einem erfreulichen Brief von Bernard Shaw die Anregung zu einem Komponisten-Pseudonym; verwahrt sich gegen den Eindruck, Kiepenheuer um den Librettodruck zu Doktor Faust zu bitten.
Incipit
heute – da ich Ihren Brief vom 20.

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
May 12, 2023: candidate (coding checked, proofread)
Direct context
Preceding
Near in this edition