Martin Wegelius to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Granholmen · July 20, 1888

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Mus.ep. M. Wegelius 3 (Busoni-Nachl. B II)
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 5316

Hochgeehrter Herr!

Besten Dank erstens für Ihren lie⸗
benswürdigen Brief
, zweitens für Ihre
Karte nebst den verlangten Notizen! Karte und Notizen nicht überliefert. In einer ebenfalls nicht überlieferten Karte hatte Wegelius zuvor biographische Notizen über Busoni erbeten (siehe den vorigen Brief).

Es giebt bei uns in Helsingfors z drei
Theater: ein schwedisches, ein finnisches
und ein russisches. In den beiden ersten
wird regelmässig gespielt – 3 bis 4 Abende
in der Woche. Das russische Theater steht
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weilen schwedische Operettengesellschaften,
zuweilen russische u. s. w. Es ist möglich
dass im Herbst eine einheimische Opern⸗
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Hochgeehrter Herr!

Besten Dank erstens für Ihren liebenswürdigen Brief, zweitens für Ihre Karte nebst den verlangten Notizen! Karte und Notizen nicht überliefert. In einer ebenfalls nicht überlieferten Karte hatte Wegelius zuvor biographische Notizen über Busoni erbeten (siehe den vorigen Brief).

Es gibt bei uns in Helsingfors drei Theater: ein schwedisches, ein finnisches und ein russisches. In den beiden ersten wird regelmäßig gespielt – drei bis vier Abende in der Woche. Das russische Theater steht meistens unbenutzt; es gastieren dort zuweilen schwedische Operettengesellschaften, zuweilen russische usw. Es ist möglich, dass im Herbst eine einheimische Operngesellschaft ein paar Monate dort spielen wird; doch steht der Plan noch auf wenig festem Grund. Im schwedischen Theater werden dann und wann Operetten und kleine Opern gegeben; die Kräfte sehr schwach. Infolge des Machtkampfs der Svekomanen und der Fennomanen um die Vorherrschaft der schwedischen respektive der finnischen Sprache in Finnland, welcher sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts zuspitzte, kam es auch in der Kulturszene zu einer sprachlichen Abgrenzung. Aufgrund der Benachteiligung von finnischsprachiger Kultur am Schwedischen Theater wurde 1872 ein weiteres Theater gebaut. 1880 kam im Auftrag des Russischen Reichs – dem Finnland als Großfürstentum angehörte – noch ein Theater für die russische Garnison in Helsinki hinzu (vgl. von Bonsdorff 2019, S. 77 ff.).

Acht Symphoniekonzerte werden jährlich vom „Orchesterverein“ gegeben. Das Orchester ist für unsere Verhältnisse ganz gut; der Dirigent, Herr Kajanus, hat für klassische Sachen wenig Sinn und Pietät, für moderne dagegen Verständnis und Hingabe. Robert Kajanus hatte die Helsinkier Orchester-Vereinigung 1882 gegründet – im selben Jahr, in dem Wegelius das Musikinstitut gegründet hatte. Beide Institutionen standen von Beginn an im ständigen Wettbewerb um überlebensnotwendige Spendenbeiträge durch private Musikliebhaber*innen, was noch dadurch verstärkt wurde, dass sich das Musikinstitut mit seiner regelmäßigen Konzertreihe und der Orchesterverein durch die Gründung einer Orchesterschule auch in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht klar voneinander abgrenzten. Der Machtkampf hatte zur Folge, dass Kajanus seinen Angestellten vertraglich verbot, bei Konzerten des Musikinstituts mitzuwirken, woraufhin dieses sich auf Kammermusikabende beschränken musste (vgl. von Bonsdorff 2019, S. 324 ff.).

Das Musikinstitut gibt jährlich ein bis zwei Konzerte (Soli und gewöhnlich Chor) – bis jetzt immer ohne Orchester – was nun wieder spezielle Gründe hat, die Sie schon früh genug erfahren werden. Ich bezweifle aber nicht, dass Herr Kajanus Sie mit Vergnügen für ein Symphoniekonzert engagieren wird. Nur muss ich den Vorbehalt tun, dass Sie nicht vor unserem ersten Konzert anderswo öffentlich auftreten. Nachher sind Sie frei. Bei uns fällt nun das Hauptgewicht auf die Musikabende des Instituts, die für ein kleines Publikum gegeben werden. Da wirken Lehrer und Schüler mit; speziell kommen viele Ensemblesachen vor; Streichquartette, Trios usw. Anders als bei Dent 1974 (S. 77 f.) oder Couling 2005 (S. 107) zu lesen ist, gab Busoni sein Debüt in Helsinki nicht mit dem Beethoven-Abend vom 13. Oktober (ibid. zudem fälschlich: 12. Oktober), sondern schon beim ersten Musikabend der Saison am 4. Oktober. Dabei stellte sich Busoni nicht nur als Virtuose, sondern auch als Komponist vor (vgl. Dahlström 1982, S. 355, No. 85; Flodin 1888). Dieses Konzert fand jedoch im Rahmen der Musikabende statt und war nur einem kleinen, auserwählten Kreis aus Studierenden und Spender*innen zugänglich. Das erste öffentliche Konzert des Instituts fand am 14. Februar 1889 statt (vgl. Dahlström 1982, S. 344). Entsprechend konnte Busoni erst am 28. Februar 1889 mit Kajanus’ Orchester-Vereinigung auftreten. In diesem Konzert spielte er Schumanns Klavierkonzert (vgl. Wasenius 1888).

Damit ich es später nicht vergesse, will ich Ihnen gleich sagen, dass der billigste und bequemste Weg nach Finnland über Lübeck geht. Von dort fahren Sie mit Dampfer in dreimal 24 Stunden nach Helsingfors für einen Preis von 80 oder 75 Franc (erste Klasse), Verpflegung nicht einberechnet. Die Dampfer gehen einmal in der Woche; der beste ist „Storfursten“.

Für diesmal muss ich schließen. Leben Sie wohl, lieber Herr Kollege, und seien Sie uns nochmals herzlich willkommen! Wenn Sie noch was von uns hören wollen, so fragen Sie nur getrost weiter.

Hochachtungsvoll Ihr ergebener

M Wegelius

Helsingfors, Granholmen, Seit 1880 eines der Sommerdomizile von Martin und Hanna Wegelius. Hannas Cousin Edvin Bergroth hatte ihnen sein dortiges Ferienhaus überlassen, nachdem er Witwer geworden war (vgl. von Bonsdorff 2019, S. 400). den 20. Juli.
                                                                
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Theater
werden dann und wann Ope⸗
retten und kleine Opern gegeben; die
Kräfte sehr schwach. Infolge des Machtkampfs der Svekomanen und der Fennomanen um die Vorherrschaft der schwedischen respektive der finnischen Sprache in Finnland, welcher sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts zuspitzte, kam es auch in der Kulturszene zu einer sprachlichen Abgrenzung. Aufgrund der Benachteiligung von finnischsprachiger Kultur am Schwedischen Theater wurde 1872 ein weiteres Theater gebaut. 1880 kam im Auftrag des Russischen Reichs – dem Finnland als Großfürstentum angehörte – noch ein Theater für die russische Garnison in Helsinki hinzu (vgl. von Bonsdorff 2019, S. 77 ff.).

Acht Symphonieconcerte werden jähr⸗
lich ivom “Orchesterverein” gegeben. Das
Orchester ist für unsere Verhältnis⸗
se ganz gut; der Dirigent, Herr Kaja⸗
nus
, hat für klassische Sachen we⸗
nig Sinn und Pietät, für moderne
dagegen Verständniss und Hingabe. Robert Kajanus hatte die Helsinkier Orchester-Vereinigung 1882 gegründet – im selben Jahr, in dem Wegelius das Musikinstitut gegründet hatte. Beide Institutionen standen von Beginn an im ständigen Wettbewerb um überlebensnotwendige Spendenbeiträge durch private Musikliebhaber*innen, was noch dadurch verstärkt wurde, dass sich das Musikinstitut mit seiner regelmäßigen Konzertreihe und der Orchesterverein durch die Gründung einer Orchesterschule auch in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht klar voneinander abgrenzten. Der Machtkampf hatte zur Folge, dass Kajanus seinen Angestellten vertraglich verbot, bei Konzerten des Musikinstituts mitzuwirken, woraufhin dieses sich auf Kammermusikabende beschränken musste (vgl. von Bonsdorff 2019, S. 324 ff.).

Das Musikinstitut giebt jährlich
ein bis zwei Concerte (Soli und
gewöhnlich Chor) – bis jetzt immer
ohne Orchester, was nun wieder
specielle Gründe hat, die Sie schon
früh genug erfahren werden. Ich
bezweifle aber nicht, dass Herr Kaja⸗
nus
Sie mit Vergnügen für ein Sym⸗
fonieconcert engagiren wird. Nur
muss ich den Vorbehalt thun, dass Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

                                                                
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nun das Hauptgewicht auf die Mu⸗
sikabende des Instituts, die für
ein kleines Publicum gegeben
werden. Da wirken Lehrer und Schü⸗
ler mit; speziell kommen viele
Ensemblesachen vor; Streichquartet⸗
te, Trios u. s. w. Anders als bei Dent 1974 (S. 77 f.) oder Couling 2005 (S. 107) zu lesen ist, gab Busoni sein Debüt in Helsinki nicht mit dem Beethoven-Abend vom 13. Oktober (ibid. zudem fälschlich: 12. Oktober), sondern schon beim ersten Musikabend der Saison am 4. Oktober. Dabei stellte sich Busoni nicht nur als Virtuose, sondern auch als Komponist vor (vgl. Dahlström 1982, S. 355, No. 85; Flodin 1888). Dieses Konzert fand jedoch im Rahmen der Musikabende statt und war nur einem kleinen, auserwählten Kreis aus Studierenden und Spender*innen zugänglich. Das erste öffentliche Konzert des Instituts fand am 14. Februar 1889 statt (vgl. Dahlström 1982, S. 344). Entsprechend konnte Busoni erst am 28. Februar 1889 mit Kajanus’ Orchester-Vereinigung auftreten. In diesem Konzert spielte er Schumanns Klavierkonzert (vgl. Wasenius 1888).

Damit ich es später nicht vergesse,
will ich Ihnen gleich sagen, dass der
billigste und bequemste Weg nach
Finland über Lübeck geht. Von
dort fahren Sie mit Dampfer in
drei mal 24 Stunden nach Helsingfors
für einen Preis von 80 oder 75 Franc
(1ste transcription uncertain. Classe), Verpflegung nicht einbe⸗
rechnet. Die Dampfer gehen ein
mal in der Woche; der beste ist
“Storfursten”. –

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
[2]
                                                                
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Für diessmal muss ich schliessen[.]
Leben Sie wohl, lieber Herr College,
und seien Sie uns nochmals herz⸗
lich willkommen! Wenn Sie noch
was von uns hören wollen, so
fragen Sie nur getrost weiter.

Hochachtungsvoll
Ihr ergebener

M Wegelius

Helsingfors, Granholmen Seit 1880 eines der Sommerdomizile von Martin und Hanna Wegelius. Hannas Cousin Edvin Bergroth hatte ihnen sein dortiges Ferienhaus überlassen, nachdem er Witwer geworden war (vgl. von Bonsdorff 2019, S. 400). den 20 Juli.
                                                                
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Document

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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 5316 | olim: Mus.ep. M. Wegelius 3 |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Martin Wegelius, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Paginierung vorgenommen hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Image source
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Summary
Wegelius dankt Busoni für das Versenden des unterschriebenen Vertrags; berichtet über die drei Theater Helsinkis und über Robert Kajanus’ Orchester-Vereinigung; stellt kammermusikalische Konzerte im Institut und Orchesterkonzerte unter Kajanus in Aussicht; empfiehlt Reiseroute nach Helsinki.
Incipit
Besten Dank erstens für Ihren liebenswürdigen Brief

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
March 19, 2024: proposed (transcription and coding done, awaiting proofreading)
Direct context
Preceding Following
Near in this edition