Ferruccio Busoni to Jella Oppenheimer

Zürich · October 1, 1917

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Mus.ep. F. Busoni 752 (Busoni-Nachl. B I)
Mus. Nachl. F. Busoni B I, 899
[1]

Meine sehr veehrte Freundin,

Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen
zu schreiben; ich fühle mich all
break="no"/>mälig einsamer, ohne dass ich mich
von den Menschen entfernte. Es ist
bezeichnenswert, dass sehr viele
Männer, die sich hierher gesellt
haben, einzeln verbleiben, nicht
einander sich anschließen. Trotzdem
weiss ich, dass manche eigenartige
und wertvolle Persönlichkeiten darunter
ist, die sich abseits hält. Ich habe
nicht viele Freunde. Meinen lieben
Verkehr mit der Jugend suche ich
aufrecht zu halten, doch muss der
Zulauf eingeschränkt sein; dem Weine
habe ich entsagt, er schmeckt mir
nicht mehr, u. doch vermisse ich
ihn. Ich stöbere gern in alten
Bücherläden — aber ich kenne jetzt
jeden einzelnen von ihnen u. die
Händler bekommen keine neuen
Sendungen von au“grosses”en.

Meine sehr veehrte Freundin,

Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen zu schreiben; ich fühle mich all break="no"/>mälig einsamer, ohne dass ich mich von den Menschen entfernte. Es ist bezeichnenswert, dass sehr viele Männer, die sich hierher gesellt haben, einzeln verbleiben, nicht einander sich anschließen. Trotzdem weiss ich, dass manche eigenartige und wertvolle Persönlichkeiten darunter ist, die sich abseits hält. Ich habe nicht viele Freunde. Meinen lieben Verkehr mit der Jugend suche ich aufrecht zu halten, doch muss der Zulauf eingeschränkt sein; dem Weine habe ich entsagt, er schmeckt mir nicht mehr, u. doch vermisse ich ihn. Ich stöbere gern in alten Bücherläden — aber ich kenne jetzt jeden einzelnen von ihnen u. die Händler bekommen keine neuen Sendungen von au„großes“en.

Nach Reisen, unter denen ich früher so sehr litt, habe ich jetzt Sehnsucht; aber nur für gro„großes“ e Länder und Städte. Diese Sehnsucht ist unerfüllbar. Am meisten, von allem Gewohnten, vermisse ich meine Büchersammlung — darin ich täglich etwas zu schaffen fand — und meine Abendgänge im Gewühl der Gro„großes“ stadt. Bleibt: das ewige arbeiten, das für mich; was unerträglich ist, das aber doch mit Hilfe aller angeführten — jetzt nicht vorhandenen Ausgangsformen, noch freudiger und ergebnisreicher waere. Dieser Standpunkt ist mein persönlicher. Ich wei„großes“ , dass andere (u. bessere) Geister verschiedene Bedingungen des Schaffens fordern. Von allen Diesen habe ich die „Einsamkeit“ niemals als fördernd empfunden, noch erfahren; obwohl gerade Sie dem Genie (das ich nicht bin) gerne zusagt wird.

Ich bin des Wartens müde u. dieser neue Herbstbeginn demütigt mich. Ich hatte den Kreis meiner Züricher Tätigkeit ganz schön abgerundet — und nun ekelt's mich, ihn wieder in Drehung zu bringen. — rend="indent-first">Mein „Werk“ ist nun in Arbeit — aber ich bin kein Mönch, der durch das Fenster seiner Zelle immer denselben Strauch erblickt, und schreibt und schreibt. — Immerhin, ich bin froh dass ich diesen Gefährten, diese werdende neue Oper, habe, mit dem ich mich täglich beschäftigen kann, nach Gefallen, und der sich stetig unter meinen Händen formt. 1. Oktober die vorangehenden Zeilen dürften ein Monat alt sein; ich wollte sie nicht absenden, eher ich etwas tröstlicheres hinzufügen konnte.

Darauf noch länger zu warten erschiene mir Ihnen gegenüber jedoch als unrecht. Das erste Bild meines Bühnenwerkes ist indessen doch in letzter Ausführung fertiggestellt. Nun geht es wieder an das „Klavier“. Die Opern sollen hier im November auch wieder aufgenommen werden, über dies veranstalte ich zur näm break="no"/>lichen Zeit „drei“ Kompositionsabende. Könnte ich Sie nur dazu herzau break="no"/>bern!— Wenn nicht Sie selbst break="no"/>doch zum Wenigsten erhoffe ich einen Brief, der Sie mir um ein geringes greifbar näher rückt. Man erwartet hier Stefan Zweig "Ich glaube, dass Sie ihn kennen, wenngleich er kein regelmä„großes“ iger Besucher Ihres Hauses ist). Grüssen Sie mir freundlichst Ihren Herrn Sohn. Ich küsse Ihnen die H„groäes“ nde als Ihr treu ergebene

                                                                
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Nach Reisen, unter denen ich
früher so sehr litt, habe ich jetzt
Sehnsucht; aber nur für gro“grosses” e
Länder und Städte. Diese Sehnsucht
ist unerfüllbar. Am meisten, von
allem Gewohnten, vermisse ich meine
Büchersammlung — darin ich täglich
etwas zu schaffen fand — und meine
Abendgänge im Gewühl der Gro“grosses” stadt.
Bleibt: das ewige arbeiten,
das für mich; was unerträglich
ist, das aber doch mit Hilfe
aller angeführten — jetzt nicht
vorhandenen Ausgangsformen,
noch freudiger und ergebnisreicher
waere. Dieser Standpunkt ist mein
persönlicher. Ich wei“grosses” , dass
andere (u. bessere) Geister
verschiedene Bedingungen des
Schaffens fordern. Von allen Diesen
habe ich die „Einsamkeit“ niemals
als fördernd empfunden, noch
erfahren; obwohl gerade Sie
dem Genie gern (das ich nicht bin)
gerne zusagt wird.

                                                                
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B I, 899
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Ich bin des Wartens müde
u. dieser neue Herbstbeginn
demütigt mich. Ich hatte den Kreis
meiner Züricher Tätigkeit
ganz schön abgerundet — und
nun ekelt's mich, ihn wieder
in Drehung zu bringen. — rend="indent-first">Mein
„Werk“
ist nun in Arbeit — aber
ich bin kein Mönch, der durch
das Fenster seiner Zelle immer
denselben Strauch erblickt,
und schreibt und schreibt. — Immerhin,
ich bin froh dass ich diesen
Gefährten, diese werdende neue
Oper, habe, mit dem ich mich
täglich beschäftigen kann, nach
Gefallen, und der sich stetig
unter meinen Händen formt.
1. Oktober
die vorangehenden Zeilen dürften
ein Monat alt sein; ich wollte sie
nicht absenden, eher ich etwas
tröstlicheres hinzufügen konnte.

                                                                
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Darauf noch länger zu warten
erschiene mir Ihnen gegenüber jedoch
als unrecht. Das erste Bild meines
Bühnenwerkes ist indessen doch
in letzter Ausführung fertiggestellt.
Nun geht es wieder an das „Klavier“.
Die Opern sollen hier im November
auch wieder aufgenommen werden,
über dies veranstalte ich zur näm
break="no"/>lichen Zeit “3” Kompositionsabende.
Könnte ich Sie nur dazu herzau
break="no"/>bern!— Wenn nicht Sie selbst
break="no"/>doch zum Wenigsten erhoffe ich
einen Brief, der Sie mir um ein
geringes greifbar näher rückt.
Man erwartet hier Stefan Zweig
"Ich glaube, dass Sie ihn kennen,
wenngleich er kein regelmä“grosses” iger
Besucher Ihres Hauses ist).
Grüssen Sie mir freundlichst Ihren
Herrn Sohn. Ich küsse
Ihnen die H“groaees” nde als Ihr
treu ergebene

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
                                                                
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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B I, 899 | olim: Mus.ep. F. Busoni 952 |

proof Kalliope

Condition
Brief ist gut erhalten, durch Falten ein waagerechter und ein senkrechter Knick.
Extent
4 Bögen, 4 beschriebene Seiten
Collation
Seitenfolge: 1, 2, 3, 4>
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Seitenzahlen und den Ort eingetragen hat
  • Hand eines Unbekannten, der auf der Rückseite der ersten etwas Unleserliches und auf der dritten Seite "Ungelesen; zu verbrennen" in senkrechter Schrift, sowie "Busoni" in waagerechter Schrift einzeichnete
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Summary
Busoni schreibt über seine Einsamkeit und Isolation, sowie die Schwierigkeiten seines kreativen Schaffens; er berichtet über den Fortschritt seiner neuen Oper und die geplanten Vorstellungen hierzu
Incipit
es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen zu schreiben; ich fühle mich allmälig einsamer

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
June 28, 2024: unfinished (currently being prepared (transcription, coding))
Direct context
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