Ferruccio Busoni to Frieda Kwast-Hodapp arrow_backarrow_forward

June 1, 1922

Facsimile
Diplomatic transcription
Reading version
XML
Mus.ep. F. Busoni 667 Busoni-Nachl. BI)Mus.Nachl. F. Busoni BI, 776

[Nach einer beglaubigten Abschrift] [Adresse:] Frau Professor Frieda Kwast-Hodapp
rend="indent-3">Dörnbergstrasse 1 Berlin W.
[Berlin,] 1. Juni 1922

Sehr verehrliche Freundin,

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

es kam am 30. Mai [Busoni hatte am 29. Mai in der Philhar-
monie das Es-Dur-Konzert von Beethoven gespielt – sein letztes
öffentliches Auftreten] ein junger begabter und geweckter itali-
en. Musiker zu mir, mit den Worten:
„Kurios, das Stück das sie gestern spielten; ich kannte es
nicht.“

– Und wie fanden Sie es? –
„Nun, die beiden ersten Sätze etwas steif, aber ganz schön;
den dritten unerträglich.“

Beneidenswerthe Unbefangenheit! Die Einen die Dinge sehen lässt
wie sie auf Einen wirken; und nicht wie man gelehrt wurde, dass
Man sie hören soll. – Ich selbst versuche, ein noch so vertrautes
Werk jedesmal wieder als neu zu betrachten. Und so kam ich zum
ersten Male dieser Tage dahinter, dass der erste Satz des Es-dur
Konzerts
im Grunde ein Marsch ist, mit recht militärischer Allüre
obendrein.

Ich führe dieses an, um Ihnen in Ihrem Eindruck der “IX.”
entgegenzukommen. Sie thun ganz recht, sich nichts vorschreiben
zu lassen und es auszusprechen, wenn Ihnen Etwas nicht behagt. –
Dieser Polizei-Kordon um Beethoven hat in Deutschland viel ver-
dorben, frische Talente eingeschüchtert, die Freiheit des Den-
kens und des Empfindens gelähmt, die Aufrichtigkeit unterdrückt.

[Berlin,] 1. Juni 1922

Sehr verehrliche Freundin,

es kam am 30. Mai [Busoni hatte am 29. Mai in der Philharmonie das Es-Dur-Konzert von Beethoven gespielt – sein letztes öffentliches Auftreten] ein junger begabter und geweckter italienischer. Musiker zu mir, mit den Worten: „Kurios, das Stück das sie gestern spielten; ich kannte es nicht.“ – Und wie fanden Sie es? – „Nun, die beiden ersten Sätze etwas steif, aber ganz schön; den dritten unerträglich.“ Beneidenswerte Unbefangenheit! Die Einen die Dinge sehen lässt wie sie auf Einen wirken; und nicht wie man gelehrt wurde, dass Man sie hören soll. – Ich selbst versuche, ein noch so vertrautes Werk jedesmal wieder als neu zu betrachten. Und so kam ich zum ersten Male dieser Tage dahinter, dass der erste Satz des Es-Dur-Konzerts im Grunde ein Marsch ist, mit recht militärischer Allüre obendrein.

Ich führe dieses an, um Ihnen in Ihrem Eindruck der „IX.“ entgegenzukommen. Sie tun ganz recht, sich nichts vorschreiben zu lassen und es auszusprechen, wenn Ihnen Etwas nicht behagt. – Dieser Polizei-Kordon um Beethoven hat in Deutschland viel verdorben, frische Talente eingeschüchtert, die Freiheit des Denkens und des Empfindens gelähmt, die Aufrichtigkeit unterdrückt. Die ausgegebene Parole der „Tiefe“ hat die Musik überhaupt in eine Sackgasse geleitet. – Das „Ringen“ und „Grellen“ gehört nicht zur Schönheit der Kunst, zur Aufgabe der Töne. Beethoven ist ein demokratischer Volksredner mit dichterischem Schwung und einer grossartigen Ehrlichkeit. In seinen höchsten Momenten steht er allerdings erhaben da: Erhabenheit und Ehrlichkeit erzeugen die ihm eigene Art „Schönheit”. So in der III. Leonore, in der Sonate 106, in der großen Messe. – Eine tiefste Verbeugunggung, und dann – Weitergehen!

Weitergehen. Und es wäre an der Zeit, das Es-Dur-Konzert ruhen zu lassen. (Und auch die „Fünfte“) – Das wird natürlich auch kommen. – Nun möchte ich (aus Proportionsgefühl) nicht gleich von mir selber sprechen. Aber Ihnen versichern, dass Ihre herzlichen und verständnisvollen Worte mir eine reiche Belohnung bedeuten. Haben Sie Dank!

Viele gute Grüße an Sie und Professor James von Ihrem freundschaftlich ergebenen F. Busoni
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="shelfmark" place="top-center" resp="#archive"> <subst><del rend="strikethrough">Mus.ep. F. Busoni 667 Busoni-Nachl. <handShift new="#archive_red"/>BI<handShift new="#archive"/>)</del><add type="shelfmark" place="top-center" resp="#archive">Mus.Nachl. F. Busoni BI, 776</add></subst> </note> <head type="transcript" rend="indent-3 underline space-below"/> <note type="address" rend="space-above"> <seg rend="indent-3">[Nach einer beglaubigten Abschrift]</seg> <seg rend="indent-first-neg">[Adresse:] </seg> <persName key="E0300701">Frau Professor Frieda Kwast-Hodapp</persName> <lb/> rend="indent-3"&gt;<placeName key="E0501083">Dörnbergstra<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e 1</placeName> <hi rend="underline"><placeName key="E0500029">Berlin</placeName> W.</hi> </note> <opener> <dateline rend="right">[<placeName key="E0500029">Berlin</placeName>,] <date when-iso="1922-06-01">1. Juni 1922</date></dateline> <salute rend="indent-3">Sehr verehrliche <rs key="E0300701">Freundin</rs>,</salute> </opener> <note type="stamp" place="inline" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/> <placeName key="E0500029"> <hi rend="spaced-out">Berlin</hi> </placeName> </stamp> </note> <p rend="indent-first"> es kam am <date when-iso="1922-05-30">30. Mai</date> [<persName key="E0300017">Busoni</persName> hatte am <date when-iso="1922-05-29">29. Mai</date> in der Philhar <lb break="no"/>monie das <title key="E0400108">Es-Dur-Konzert</title> von <persName key="E0300001">Beethoven</persName> gespielt – sein letztes <lb/>öffentliches Auftreten] ein junger begabter und geweckter <choice><abbr>itali <lb break="no"/>en</abbr><expan>italienischer</expan></choice>. Musiker zu mir, mit den Worten: <lb rend="indent"/><q rend="dq-du">Kurios, das Stück das sie gestern spielten; ich kannte es <lb/>nicht.</q> <lb rend="indent"/>– Und wie fanden Sie es? – <lb rend="indent"/><q rend="dq-du">Nun, die beiden ersten Sätze etwas steif, aber ganz schön; <lb/>den dritten unerträglich.</q> <lb/>Beneidenswert<orig>h</orig>e Unbefangenheit! Die Einen die Dinge sehen lässt <lb/>wie sie auf Einen wirken; und nicht wie man gelehrt wurde, dass <lb/>Man sie hören soll. – Ich selbst versuche, ein noch so vertrautes <lb/>Werk jedesmal wieder als neu zu betrachten. Und so kam ich zum <lb/>ersten Male dieser Tage dahinter, dass der erste Satz des <title key="E0400108"><choice><orig>Es-dur <lb/>Konzerts</orig><reg>Es-Dur-Konzerts</reg></choice></title> im Grunde ein <hi rend="underline">Marsch</hi> ist, mit recht militärischer Allüre <lb/>obendrein. </p> <p type="pre-split" rend="indent-first"> Ich führe dieses an, um Ihnen in Ihrem Eindruck der <title key="E0400001" rend="dq-uu">IX.</title> <lb/>entgegenzukommen. Sie t<orig>h</orig>un ganz recht, sich nichts vorschreiben <lb/>zu lassen und es auszusprechen, wenn Ihnen Etwas nicht behagt. – <lb/>Dieser <hi rend="underline">Polizei-Kordon</hi> um <persName key="E0300001">Beethoven</persName> hat in <placeName key="E0500015">Deutschland</placeName> viel ver <lb break="no"/>dorben, frische Talente eingeschüchtert, die Freiheit des Den <lb break="no"/>kens und des Empfindens gelähmt, die Aufrichtigkeit unterdrückt. </p></div>
2Facsimile
2Diplomatic transcription
2XML

Die ausgegebene Parole der „Tiefe“ hat die Musik überhaupt in
eine Sackgasse geleitet. – Das „Ringen“ und „Grellen“ gehört
nicht zur Schönheit der Kunst, zur Aufgabe der Töne. Beethoven
ist ein demokratischer Volksredner mit dichterischem Schwung
und einer grossartigen Ehrlichkeit. In seinen höchsten Momenten
steht er allerdings erhaben da: Erhabenheit und Ehrlichkeit er-
zeugen die ihm eigene Art „Schönheit”. So in der III. Leonore,
in der Sonate 106, in der grossen Messe. – Eine tiefste Verbeugung-
gung, und dann – Weitergehen!

Weitergehen. Und es wäre an der Zeit, das Es dur Konzert
ruhen zu lassen. (Und auch die „Fünfte“) – Das wird natürlich
auch kommen. – Nun möchte ich (aus Proportionsgefühl) nicht
gleich von mir selber sprechen. Aber Ihnen versichern, dass
Ihre herzlichen und verständnisvollen Worte mir eine reiche
Belohnung bedeuten. Haben Sie Dank!

Viele gute Grüsse an Sie
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
und Professor James
von Ihrem freundschaftlich
ergebenen
F. Busoni
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split"> Die ausgegebene Parole der <soCalled rend="dq-du">Tiefe</soCalled> hat die Musik überhaupt in <lb/>eine Sackgasse geleitet. – Das <soCalled rend="dq-du">Ringen</soCalled> und <soCalled rend="dq-du">Grellen</soCalled> gehört <lb/>nicht zur Schönheit der Kunst, zur Aufgabe der Töne. <persName key="E0300001">Beethoven</persName> <lb/>ist ein demokratischer Volksredner mit dichterischem Schwung <lb/>und einer grossartigen Ehrlichkeit. In seinen höchsten Momenten <lb/>steht er allerdings erhaben da: Erhabenheit und Ehrlichkeit er <lb break="no"/>zeugen die ihm eigene Art „Schönheit”. So in der III. Leonore, <lb/>in der <title key="E0400003">Sonate 106</title>, in der gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en Messe. – Eine tiefste Verbeugung <lb break="no"/>gung, und dann – Weitergehen! </p> <p rend="indent-first"> Weitergehen. Und es wäre an der Zeit, das <title key="E0400108"><choice><orig>Es dur Konzert</orig><reg>Es-Dur-Konzert</reg></choice></title> <lb/>ruhen zu lassen. (Und auch die <title key="E0400009" rend="dq-du">Fünfte</title>) – Das wird natürlich <lb/>auch kommen. – Nun möchte ich (aus Proportionsgefühl) nicht <lb/>gleich von mir selber sprechen. Aber Ihnen versichern, dass <lb/>Ihre herzlichen und verständnisvollen Worte mir eine reiche <lb/>Belohnung bedeuten. Haben Sie Dank! </p> <closer rend="align(right)"> Viele gute Grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e an Sie <lb/> <note type="stamp" place="inline" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/> <placeName key="E0500029"> <hi rend="spaced-out">Berlin</hi> </placeName> </stamp> </note>und <persName key="E0300536">Professor James</persName> <lb/>von Ihrem freundschaftlich <lb/>ergebenen <lb/><persName key="E0300017">F. Busoni</persName> </closer> </div>
3Facsimile
3Diplomatic transcription
3XML
[Rückseite von Textseite 1, vacat]
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="objdesc" resp="E0300741">[Rückseite von Textseite 1, vacat]</note> </div>
4Facsimile
4Diplomatic transcription
4XML
[Rückseite von Textseite 2, vacat]
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="objdesc" resp="E0300741">[Rückseite von Textseite 2, vacat]</note> </div>

Document

warningStatus: unfinished XML Facsimile Download / Cite

Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B I, 776 | olim: Mus.ep. F. Busoni 667 |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
2 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Collation
Seitenfolge: 1, 3, 2, 4 (2 vacat)
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Image source
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
Revision
June 24, 2025: unfinished (currently being prepared (transcription, coding))
Direct context
Preceding Following
Near in this edition