Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Berlin · 3. Oktober 1923

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Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 136
Berlin, den 3.10.23.
Berlin-Südende
Tempelhoferstr. 12 a
Tel. Südring 3295

Mein verehrter, großer Freund! – Es muß, denke ich,
ein Gefühl wohltuender Entspannung sein, wenn
man einen Boden betritt, wo die äußeren Lebens-
bedingungen ihre verhältnismäßige Einfachheit be-
wahrt haben. Dieses u. viel mehr wünschen wir
Ihnen alle u. freuen uns, daß Sie sich zu der
lange verschobenen Erholungsreise endlich entschloßen;
ich befürchte freilich dabei, daß der Kontrast Sie
verführe, Ihren Aufenthalt in Paris zu verlängern!
Doch dies ist ein egoïstischer Gedanke; Berlin
wird leider mit jedem Tage weniger verlockend, das
geistige Leben der Stadt erscheint mir – zum
ersten Mal – ernstlich gehemmt u. in allem, was
man unternimmt, mischt sich, wie ein bitterer
Tropfen, die Ungewißheit der Stunde. Dies Lastende
abzuschütteln, gelingt zuzeiten, doch werden Kräfte
dabei verbraucht, mit denen man haushälterisch
sein möchte. – Immerhin: ein schöner Morgen,
die Sonne, die aus geteilten Nebeln hervorbricht
und alles ist vergessen u. abgetan, wenn auch

Berlin, den 3.10.23.

Mein verehrter, großer Freund!

Es muss, denke ich, ein Gefühl wohltuender Entspannung sein, wenn man einen Boden betritt, wo die äußeren Lebensbedingungen ihre verhältnismäßige Einfachheit bewahrt haben. Dieses und viel mehr wünschen wir Ihnen alle und freuen uns, dass Sie sich zu der lange verschobenen Erholungsreise endlich entschlossen; ich befürchte freilich dabei, dass der Kontrast Sie verführe, Ihren Aufenthalt in Paris zu verlängern! Doch dies ist ein egoistischer Gedanke; Berlin wird leider mit jedem Tage weniger verlockend, das geistige Leben der Stadt erscheint mir – zum ersten Mal – ernstlich gehemmt, und in allem, was man unternimmt, mischt sich, wie ein bitterer Tropfen, die Ungewissheit der Stunde. Dies Lastende abzuschütteln, gelingt zuzeiten, doch werden Kräfte dabei verbraucht, mit denen man haushälterisch sein möchte. – Immerhin: ein schöner Morgen, die Sonne, die aus geteilten Nebeln hervorbricht, und alles ist vergessen und abgetan, wenn auch die schäbig-schikanösen Alltäglichkeiten und das Heer belangloser Wichtigkeiten schon in der nächsten Stunde wieder anrücken. Wenn ich schon so weit wäre hier mit der Bude, könnte ich, glaube ich, trotz alledem gut arbeiten. Dazu fehlt mir jetzt einfach die Zeit.

Weill brachte mir seinen „Frauentanz“, wovon ich entzückt bin. Das ist stellenweise sogar meisterlich. Nicht so – finde ich – der Chor, trotz schöner, vieler Einfälle. – Dass Sie unter allem Unleidlichen, das Sie hier zurückließen, auch Hindemithe nannten, ist (mir verständlich) wahrscheinlich ungerecht. Schon dass Sie den Mann nicht einfach übergehen, sondern ihn verneinen – und dies mit einiger Wärme –, ist eine wenn auch negative Zuerkennung seines Belangs. Ich gebe alles zu, was Sie an ihm bemängeln, und sogar einiges mehr, das aus meinen persönlichen Erfahrungen entspringt; und dennoch werde ich niemals anders sagen können, als dass er eine reiche, freie Natur ist, der die Musik eine angeborne, natürliche Funktion ist. Die Art, wie er diese Funktion ausübt, muss Ihnen und mir äußerst zuwider sein. – Es ist eine durchaus logische Folge Ihrer Einstellung, dass Sie auch hier absolutistisch entscheiden. Vielleicht haben Sie recht, wenn auch dies Urteilen nach höchstem Maßstab die Umwelt zu einem Trümmerhaufen macht. Dies dachte ich neulich, als ich wieder Mahlers II. Symphonie erduldete und deprimiert nach dem Scherzo wegging.

Schreiben Sie doch bitte, wie es Ihnen geht, ob Sie schöne und gute Tage haben. Paris im Herbst! – Ich freue mich mit Ihnen.

Empfangen Sie beide die allerherzlichsten Grüße meiner Frau und Ihres treuen

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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die schäbig=schikanösen Alltäglichkeiten u. das Heer belangloser
Wichtigkeiten schon in der nächsten Stunde wieder anrücken.
Wenn ich schon so weit wäre hier mit der Bude, könnte
ich, glaube ich, trotz alledem gut arbeiten. Dazu fehlt mir jetzt
einfach die Zeit.

Weill brachte mir seinen „Frauentanz“, wovon ich entzückt
bin. Das ist stellenweise sogar meisterlich. Nicht so – finde
ich – der Chor, trotz schöner, vieler Einfälle. – Daß Sie
unter allem Unleidlichen, das Sie hier zurückliessen, auch
Hindemithe nannten ist (mir verständlich) wahrschein-
lich ungerecht. Schon daß Sie den Mann nicht ein-
fach übergehen, sondern ihn verneinen – u. dies mit
einiger Wärme – ist eine wenn auch negative Zu-
erkennung seines Belangs. Ich gebe alles zu, was Sie
an ihm bemängeln, u. sogar einiges mehr, das aus
meinen persönlichen Erfahrungen entspringt; u. dennoch
werde ich niemals anders sagen können, als daß
er eine reiche, freie Natur ist, demder die Musik eine
angeborne, natürliche Funktion ist. Die Art, wie er
diese Funktion ausübt, muß Ihnen u. mir äußerst
zuwider sein. – Es ist eine durchaus logische Folge
Ihrer Einstellung, daß Sie auch hier absolutistisch
entscheiden. Vielleicht haben Sie recht, wenn auch
dies Urteilen nach höchstem Maßstab die Umwelt zu Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

[am rechten Rand, längs:]
einem Trümmerhaufen macht. Dies dachte ich neulich als
ich wieder Mahlers II. Symph. erduldete u. deprimiert nach dem Scherzo wegging. –

Schreiben Sie doch bitte, wie es Ihnen geht, ob Sie schöne u. gute Tage haben.
Paris im Herbst! – Ich freue mich mit Ihnen. Empfangen Sie beide die allerherzlichsten
[am linken Rand, längs:]
Grüße meiner Frau u. Ihres treuen

                                                                
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Frankreich.
Berlin-
–3.10.23.6-7N
a
Südende
Berlin-
–3.10.23.6-7N
a
Südende
Mr. Ferruccio Busoni
Aux Bons soins de Frz.: bei (c/o). Mr Tauber
Salle Erard
48 rue Villejust
Rue du Mail
Paris.
                                                                <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="address" resp="#major_hand">
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Dokument

doneStatus: zur Freigabe vorgeschlagen XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,136 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss oben (offenbar ohne Textverlust).
Umfang
1 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
  • Unbekannte Hand, die mit schwarzer Tinte die Nachsendeadresse notiert hat
  • Unbekannte Hand, die mit Rotstift die Nachsendeadresse unter- bzw. angestrichen hat

Zusammenfassung
Jarnach begrüßt Busonis Aufbruch zur Erholungsreise nach Paris; empfindet die Atmosphäre im Berlin zur Zeit der Hyperinflation als „ernstlich gehemmt“; ist von Kurt Weills Frauentanz sehr, vom Recordare weniger beeindruckt; verteidigt Paul Hindemith als „eine reiche, freie Natur […], der die Musik eine angeborne, natürliche Funktion ist“; hat ein Konzert mit Gustav Mahlers 2. Symphonie vorzeitig verlassen.
Incipit
Es muss, denke ich, ein Gefühl wohltuender Entspannung sein

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
25. November 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition