Hans Huber an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Basel · vmtl. 25. September 1918

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Mus.ep. H. Huber 81 (Busoni-Nachl. B II) 25. Sept. 191825

Mein lieber Freund! Der Som̅er
geht zu Ende & damit schließt auch meine Reconvales⸗
zentenzeit dießseits des Gottardo mit einem Defizit
ab, das sich hoffentlich an der Sonne & in dem climatisch
so günstigen Locarno wieder ausgleichen mag! Die
Gefühle, daß man sich im Leiden erziehen soll, daß
das Äußere das In̅ere nicht verzehrt, daß man in
schli̅men Tagen den Dilettantismus des Lebens mehr auf die
Seite schiebt als in gesunden Zeiten, nehmen den Leidenden
so in Anspruch, daß man äußerlich den Kontakt mit den
liebsten Menschen verliert. In̅erlich herrscht tiefe,
klare Ruhe, eine große Liebe, in der ich täglich an Sie
denke, den Moment aber immer herausschiebe, der mich
Ihnen brieflich nähern soll. Ich habe Furcht vor meinen
Gedanken & fürchte den Empfang von Gedanken. Das

Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2307

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Mein lieber Freund!

Der Sommer geht zu Ende, und damit schließt auch meine Rekonvaleszentenzeit diesseits des Gottardo mit einem Defizit ab, das sich hoffentlich an der Sonne und in dem klimatisch so günstigen Locarno wieder ausgleichen mag! Die Gefühle, dass man sich im Leiden erziehen soll, dass das Äußere das Innere nicht verzehrt, dass man in schli̅men Tagen den Dilettantismus des Lebens mehr auf die Seite schiebt als in gesunden Zeiten, nehmen den Leidenden so in Anspruch, dass man äußerlich den Kontakt mit den liebsten Menschen verliert. Innerlich herrscht tiefe, klare Ruhe, eine große Liebe, in der ich täglich an Sie denke, den Moment aber immer herausschiebe, der mich Ihnen brieflich nähern soll. Ich habe Furcht vor meinen Gedanken und fürchte den Empfang von Gedanken. Das ist Krankheit und so steht es mit mir!

Fürstin Wittgenstein spricht in einem Briefe an Liszt vom Alter, welches das Noviziat des Himmels“ bedeutet. In dasselbe will ich vom 30. September 1918nächsten Montag an wieder eintreten, aber in kein eingeschlossenes, sondern in ein von der Natur begünstigtes, in dem ich jeden Augenblick mit Bewusstsein genießen kann. Jede Sentimentalität sei ausgeschlossen!

Ihre ausgesprochene Perspektive, mich im Laufe des Winters in Locarno besuchen zu wollen, steht als leuchtende Idee vor mir. Wenn ich auch nur als „halber Mensch“ mit Ihnen verkehren kann, das Schöne für mich liegt im Empfangen und Aufnehmen der Gaben Ihres reichen Geistes. Aber Laufen und in der Natur herumstreifen müssen Sie mit mir. Daneben duettieren Sie einmal mit Zweygberg, damit dieser Schläfer zur Künstlersprache erwacht!

Tausend Liebes und Gutes an Sie und verehrungsvolle Grüße an Ihre Frau von Ihrem alten

Hans Huber

                                                                
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ist Krankheit !& so steht es mit mir! –

Fürstin Wittgenstein spricht in einem Briefe an Liszt
vom Alter, welches das Noviziat des Him̅els“ bedeutet.
In dasselbe will ich vom 30. September 1918nächsten Montag an wieder
eintreten, aber in kein eingeschloßenes, sondern in ein
von der Natur begünstigtes, in dem ich jeden Augenblick
mit Bewußtsein genießen kan̅. Jede Sentimentalität
sei ausgeschloßen! –

Ihre ausgesprochene Perspektive, mich im Laufe
des Winters in Locarno besuchen zu wollen, steht als leuchtende
Idee vor mir. Wen̅ ich auch nur als „halber Mensch“ mit Ihnen
verkehren kan̅, das Schöne für mich liegt im Empfangen
& Aufnehmen der Gaben Ihres reichen Geistes. Aber
Laufen & in der Natur herumstreifen müßen Sie mit mir.
Daneben duettiren Sie einmal mit Zweygberg, damit
dieser Schläfer zur Künstlersprache erwacht! –

Tausend Liebes & Gutes an Sie & verehrungsvolle
Grüße an Ihre Frau von Ihrem alten

Hans Huber

                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2307 | olim: Mus.ep. H. Huber 81 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Die Briefkarte ist gut erhalten.
Umfang
1 Briefkarte, 2 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Hans Huber, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift.
  • Vmtl. Hand des Empfängers Ferruccio Busoni, der vmtl. das Empfangsdatum mit schwarzer Tinte notiert hat.
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen und eine Nummerierung eingetragen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12

Incipit
Der Sommer geht zu Ende

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
unter Mitarbeit von
Stand
2. November 2017: in Bearbeitung (in der Erfassungs-/Codierungsphase)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition