Jella Oppenheimer an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Wien · 16. Dezember 1918

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Mus.ep. J. Oppenheimer 25 (Busoni-Nachl. B II)
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 3456
[1]
Ischl, Hotel Post
den 16.12.1918

Lieber, teuerer Freund,

Die Ereignisse haben mich die Worte nicht mehr
finden lassen, ich konnte mich zu keinem
Brief entschliessen, so sehr ich mich auch gesehnt
habe von Ihnen zu hören. Ihr Brief, für den ich
innigst danke, hat mir die Zunge gelöst und ich
bin glücklich Ihre Schriftzüge zu sehen, zu wissen,
dass Sie alle gesund sind.

Ich habe Wien im
Juni verlassen und bin seither nur 8 Tage im
September dort gewesen, die restliche Zeit habe ich,
mit Ausnahme von 4 Wochen in Gastein, Oppenheimer hielt sich bereits im Juli 1905 zur Kur in Bad Gastein auf (Vgl. ihren Brief vom 18. Juli 1905). Wie aus Briefen an Busoni und Hugo von Hofmannsthal hervorgeht, kämpfte sie mit „schlaflosen, wachen“ Nächten, ausgelöst von „ischiatischen Schmerzen“ (Giacon 1999, S. 97), wie ihr Sohn Felix schreibt. Auch 1906 verbrachte sie 4 Wochen in Bad Gastein (Giacon 2000, S. 7). Es ist also naheliegend, dass sich Oppenheimer 1918 wieder zur Kur in Bad Gastein aufhielt. ganz
in Aussee verbracht. In Aussee befand sich das Ramgut, ein Haus Oppenheimers. Ich wäre wahrscheinlich
trotz der drückenden Einsamkeit noch dort,
wenn nicht der gänzliche Lichtmangel mich
fort getrieben hätte. Wir haben weder Gas noch
elektr. Licht und das Petroleum war zu Ende.
Ich habe in Ischl Zuflucht genommen und
will hier abwarten wie alle Verhältnisse sich
gestalten und die Reise halbwegs annehmbar
wird. Statt 8 St, dauert die Fahrt jetzt mehr
als 18, meist in ungeheiztem Wagen und so eng
gedrängt, dass man von Glück sagen muss

Ischl, Hotel Post, den 16.12.1918

Lieber, teuerer Freund,

Die Ereignisse haben mich die Worte nicht mehr finden lassen, ich konnte mich zu keinem Brief entschließen, so sehr ich mich auch gesehnt habe von Ihnen zu hören. Ihr Brief, für den ich innigst danke, hat mir die Zunge gelöst und ich bin glücklich Ihre Schriftzüge zu sehen, zu wissen, dass Sie alle gesund sind.

Ich habe Wien im Juni verlassen und bin seither nur 8 Tage im September dort gewesen, die restliche Zeit habe ich, mit Ausnahme von 4 Wochen in Gastein, Oppenheimer hielt sich bereits im Juli 1905 zur Kur in Bad Gastein auf (Vgl. ihren Brief vom 18. Juli 1905). Wie aus Briefen an Busoni und Hugo von Hofmannsthal hervorgeht, kämpfte sie mit „schlaflosen, wachen“ Nächten, ausgelöst von „ischiatischen Schmerzen“ (Giacon 1999, S. 97), wie ihr Sohn Felix schreibt. Auch 1906 verbrachte sie 4 Wochen in Bad Gastein (Giacon 2000, S. 7). Es ist also naheliegend, dass sich Oppenheimer 1918 wieder zur Kur in Bad Gastein aufhielt. ganz in Aussee verbracht. In Aussee befand sich das Ramgut, ein Haus Oppenheimers. Ich wäre wahrscheinlich trotz der drückenden Einsamkeit noch dort, wenn nicht der gänzliche Lichtmangel mich fort getrieben hätte. Wir haben weder Gas noch elektrisches Licht und das Petroleum war zu Ende. Ich habe in Ischl Zuflucht genommen und will hier abwarten wie alle Verhältnisse sich gestalten und die Reise halbwegs annehmbar wird. Statt 8 Stunden dauert die Fahrt jetzt mehr als 18, meist in ungeheiztem Wagen und so eng gedrängt, dass man von Glück sagen muss, wenn man einen Sitzplatz erringt.

Obwohl ich im Sommer fast immer von lieben Freunden umgeben war, konnte weder ich noch die anderen eine Stunde froh werden, nie sorglos sein, es stand alles gleichsam unter trüben Zeichen und ein schwerer Druck hat gelastet. Im Herbst haben sich alle düsteren Ahnungen schmerzvoll erfüllt Womöglich bezieht sich Oppenheimer auf die Verluste und schlussendliche Niederlage Österreich-Ungarns im 1. Weltkrieg und den Zusammenbruch der Doppelmonarchie. und seither erlitten wir Schlag auf Schlag, so schwer, so hart, dass man verstummt.

Der Krieg ist zu Ende, heißt es, man spricht von Frieden – ja man spricht – aber das Wort hat keinen Inhalt so lange die Menschen sich in anderer Form bekämpfen, so lange der Hass über die Welt geht und der Jammer, das Elend nicht gelindert sind. Es herrscht Hunger und Not bei uns, die Bevölkerung hat keine Lebensmittel, keine Bekleidung und leidet bitter durch die Kälte, der Mangel an Kohlen droht katastrophal zu werden. Gott helfe! Das ist alles, was sich sagen und hoffen lässt.

Ich flüchte zu dem Glauben, dass es geschichtliche Notwendigkeiten sind, die sich vollziehen, dass alle Geschehnisse nicht zwecklos gewesen sind, nicht Einzelne daran Schuld tragen, aber das nimmt nichts von dem Leid der Gegenwart, nichts von dem unsäglichen Mitleid, das mir das Herz zusammen presst. Das Mitleid ist so groß, dass es die eigenen, schweren Sorgen ganz zum Schweigen bringt.

Es war wahrlich nicht meine Absicht Ihnen zu klagen, lieber, verehrter Freund, aber was ich empfinde, kommt unwillkürlich zum Ausdruck.

Wie werden Ihre Entschlüsse fallen? Ehe Sie Dauerndes bestimmen, wird wohl noch eine Spanne Zeit vergehen müssen, es heißt noch abwarten, wie die Welt sich formt und gestaltet. Ich habe mir in diesen letzten Wochen nichts mehr gewünscht, als in die Schweiz zu kommen, Busoni wohnt zu diesem Zeitpunkt und seit Oktober 1915 in Zürich. leider vergebens. Augenblicklich ist es unerreichbar. Niemand erhält hier die Erlaubnis und noch weniger das notwendige Geld in Francs. Ich muss es also aufgeben und auch dafür auf andere Verhältnisse warten und hoffen! Die Welt ist für uns eng geworden, wie mit eisernen Ringen umklammert, heißt es still halten und bleiben, wo man ist; einmal wird sich ja die Zwangsjacke lösen.

Vielleicht bringt mir das Frühjahr, der Sommer die innig und lang ersehnte Freude Sie und Ihre liebe Frau wieder zu sehen, zu sprechen, ich will darauf hoffen und mich daran aufrichten.

Dass Ihre beiden lieben Söhne bewahrt bleiben, nicht mehr Gefahr laufen und mit ihnen so viele Hunderttausende nicht mehr hingeopfert werden, ist ein unendlicher, unaussprechlicher Segen, das einzige Licht in tiefer Nacht.

Die Publikation des Faust erbitte ich und erwarte dieselbe mit Spannung. Im Oktober 1918 ist das Libretto von Busonis Doktor Faust in den weißen Blättern veröffentlicht worden. Busoni bot in seinem vorangegangenen Brief die Zusendung desselbigen an.

Sie sagen in Ihrem Brief, dass Sie wirtschaftlich von vorne anfangen müssen, das macht mich tief erbeben, jetzt – in einer Lebensphase, die Freiheit und Ruhe fordert, damit Sie ungestört und ohne Sorgen schaffen, komponieren. Busoni schrieb in seinem Brief vom 05.12.1918, dass seine Komposition des Doktor Faust „nahehin zur Hälfte“ vollbracht sei. Auch darin hat der Krieg Furchtbares verschuldet, vieles, was fest gesichert und gefügt war, entwurzelt.

Schriftlich lässt sich alles nur unvollkommen sagen und so heißt es immer wieder schweigen und warten.

Ihr armer Freund Kapff hat ausgelitten und war in seiner Krankheit zuletzt gut und liebevoll von einem Freund umgeben, der mir den Tod des Herrn von Kapff mitgeteilt hat. Dieser Freund, Namens Sampa, hat wie es scheint für alles bestens gesorgt und versichert, dass das Ende schmerzlos war. Busoni berichtete im vorangegangenen Brief vom Ableben von Kapffs und bedankte sich bei Oppenheimer, „dass sie so gütig für ihn gesorgt“ hatte. Gegenüber Oppenheimer erwähnte Busoni von Kapff erstmals in seinem Brief vom 21. Dezember 1916, einen 63 jährigen Freund aus seiner Jugend, der „völlig einsam und gelähmt“ wie Oppenheimer in Wien wohnte, für den er sie um eine „kleine Liebesspende“ bat. Dieser Bitte scheint Oppenheimer nachgekommen sein, wie Busonis Brief vom 19. Juni 1917 erschließen lässt. Oppenheimer ist dabei aber zumindest zu Beginn anonym geblieben, von Kapff wusste lediglich von einer „unbekannten Wohlthäterin“.

Bald geht das Jahr zur Neige und gibt uns damit sein erstes freundliches Geschenk. Möge es viel von allem Unglück, dass es gebracht, mitnehmen und 1919 die heißen Wünsche erfüllen, die ich für Sie und Ihre Lieben hege.

Innigste Grüße für Sie und Frau Gerda.

In unveränderlicher Freundschaft Ihre

Jella Oppenheimer

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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wenn man einen Sitzplatz erringt.

Obwohl ich im Sommer fast immer von
lieben Freunden umgeben war, konnte weder ich
noch die anderen eine Stunde froh werden, nie
sorglos sein, es stand alles gleichsam unter
trüben Zeichen und ein schwerer Druck hat
gelastet. Im Herbst haben sich alle düsteren
Ahnungen schmerzvoll erfüllt Womöglich bezieht sich Oppenheimer auf die Verluste und schlussendliche Niederlage Österreich-Ungarns im 1. Weltkrieg und den Zusammenbruch der Doppelmonarchie. und seither
erlitten wir Schlag auf Schlag, so schwer, so
hart, dass man verstummt.

Der Krieg ist zu Ende, heisst es, man
spricht von Frieden – ja man spricht – aber
hoch Transkription unsicher: durchgestrichen. hat das Wort ˅hat keinen Inhalt so lange
die Menschen sich in anderer Form bekämpfen,
so lange der Hass über die Welt geht, und der
Jammer, das Elend nicht gelindert sind.
Es herrscht Hunger und Not bei uns, die
Bevölkerung hat keine Lebensmitteln, keine
Bekleidung und leidet bitter durch die Kälte,
der Mangel an Kohlen droht katastrophal
zu werden.
Gott helfe! das ist alles was sich sagen
und hoffen lässt.

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
                                                                
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B II, 3456

Ich flüchte zu dem Glauben, dass es
geschichtliche Notwendigkeiten sind, die
sich vollziehen, dass alle Geschehnisse nicht
zwecklos gewesen sind, nicht Einzelne daran
Schuld tragen, aber das nimmt nichts von
dem Leid der Gegenwart, nichts von dem
unsäglichen Mitleid, das mir das Herz
zusammen presst. Das Mitleid ist so gross,
dass es die eigenen, schweren Sorgen ganz
zum Schweigen bringt.

Es war wahrlich nicht meine Absicht
Ihnen zu klagen, lieber, verehrter Freund,
aber was ich empfinde kommt unwillkürlich
zum Ausdruck.

Wie werden Ihre Entschlüsse fallen?
Ehe Sie Dauerndes bestimmen wird wohl noch
eine Spanne Zeit vergehen müssen, es heisst
noch abwarten wie die Welt sich formt und
gestaltet. Ich habe mir in diesen letzten
Wochen nichts mehr gewünscht als in
die Schweiz zu kommen, Busoni wohnt zu diesem Zeitpunkt und seit Oktober 1915 in Zürich. leider vergebens.
Augenblicklich ist es unerreichbar. Niemand
erhält hier die Erlaubnis und noch weniger

                                                                
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das notwendige Geld in francs
Ich muss es also aufgeben und auch dafür
auf andere Verhältnisse warten und hoffen!
Die Welt ist für uns eng geworden, wie mit
eisernen Ringen umklammert, heisst es still
halten und bleiben wo man ist; einmal wird
sich ja die Zwangsjacke lösen.

Vielleicht bringt mir das Frühjahr, der Sommer
die innig und lang ersehnte Freude Sie
und Ihre liebe Frau wieder zu sehen, zu
sprechen., Ich will darauf hoffen und mich
daran aufrichten.

Dass Ihre beiden lieben Söhne bewahrt bleiben,
nicht mehr Gefahr laufen und mit ihnen so
viele Hunderttausende Transkription unsicher. Alternative Lesart:
Hundert tausende
nicht mehr hingeopfert
werden, ist ein unendlicher, unaussprechliche
Segen, das einzige Licht in tiefer Nacht.

Die Publikation des Faust erbitte ich und erwarte
dieselbe mit Spannung. Im Oktober 1918 ist das Libretto von Busonis Doktor Faust in den weißen Blättern veröffentlicht worden. Busoni bot in seinem vorangegangenen Brief die Zusendung desselbigen an.

Sie sagen in Ihrem Brief, dass Sie wirtschaftlich
von vorne anfangen müssen, das macht
mich tief erbeben, jetzt – in einer Lebensphase, Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

                                                                
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B II, 3456


die Freiheit und Ruhe fordert, damit Sie
ungestört und ohne Sorgen schaffen, komponi[er]en[.] Busoni schrieb in seinem Brief vom 05.12.1918, dass seine Komposition des Doktor Faust „nahehin zur Hälfte“ vollbracht sei.
Auch darin hat der Krieg Furchtbares verschuldet,
vieles was fest gesichert und gefügt war,
entwurzelt.

Schriftlich lässt sich alles nur unvollkommen
sagen und so heisst es immer wieder […] mindestens 1 Zeichen: überschrieben. schweigen
und warten.

Ihr armer Freund Kapff hat ausgelitten, und war
in seiner Krankheit zuletzt gut und liebevoll
von einem Freund umgeben, der mir den Tod
des Herrn v Kapff mitgeteilt hat. Dieser Freund,
Namens Sampa hat wie es scheint für alles
bestens gesorgt und versichert, dass das Ende
schmerzlos war. Busoni berichtete im vorangegangenen Brief vom Ableben von Kapffs und bedankte sich bei Oppenheimer, „dass sie so gütig für ihn gesorgt“ hatte. Gegenüber Oppenheimer erwähnte Busoni von Kapff erstmals in seinem Brief vom 21. Dezember 1916, einen 63 jährigen Freund aus seiner Jugend, der „völlig einsam und gelähmt“ wie Oppenheimer in Wien wohnte, für den er sie um eine „kleine Liebesspende“ bat. Dieser Bitte scheint Oppenheimer nachgekommen sein, wie Busonis Brief vom 19. Juni 1917 erschließen lässt. Oppenheimer ist dabei aber zumindest zu Beginn anonym geblieben, von Kapff wusste lediglich von einer „unbekannten Wohlthäterin“.

Bald geht das Jahr zur Neige und giebt uns
damit d sein erstes freundliches Geschenk.
Möge es viel von allem Unglück, das es
gebracht, mitnehmen und 1919 die heissen
Wünsche erfüllen, die ich für Sie und Ihre
Lieben hege.

Innigste Grüsse für Sie und
Frau Gerda.

In unveränderlicher Freundschaft
Ihre
Jella Oppenheimer
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="foliation" place="top-left" resp="#major_hand">3</note> <note type="shelfmark" place="right-of" rend="indent" resp="#archive">B II, 3456</note> <lb/><lb/>die Freiheit und Ruhe fordert, damit Sie <lb/>ungestört und ohne Sorgen schaffen, komponi<supplied reason="omitted">er</supplied>en<supplied reason="omitted">.</supplied><note type="commentary" resp="#E0300826"><persName key="E0300017">Busoni</persName> schrieb in <ref target="#D0102113">seinem Brief vom <date when-iso="1918-12-05">05.12.1918</date></ref>, dass seine Komposition des <title key="E0400218">Doktor Faust</title> <q rend="dq-du" source="#D0102113" n="3">nahehin zur Hälfte</q> vollbracht sei.</note> <lb/>Auch darin hat der Krieg Furchtbares verschuldet, <lb/>vieles<reg>,</reg> was fest gesichert und gefügt war, <lb/>entwurzelt.</p> <p>Schriftlich lässt sich alles nur unvollkommen <lb/>sagen und so hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>t es immer wieder <subst><del rend="overwritten"><gap atLeast="1" unit="char" reason="overwritten"/></del><add>sch</add></subst>weigen <lb/>und warten.</p> <p>Ihr armer Freund <persName key="E0300855">Kapff</persName> hat ausgelitten<subst><del rend="overwritten">,</del><add place="across"> und</add></subst> war <lb/>in seiner Krankheit zuletzt gut und liebevoll <lb/>von einem Freund umgeben, der mir den Tod <lb/>des <persName key="E0300855">Herrn <choice><abbr>v</abbr><expan>von</expan></choice> Kapff</persName> mitgeteilt hat. Dieser Freund, <lb/>Namens <persName key="E0300881">Sampa</persName><reg>,</reg> hat wie es scheint für alles <lb/>bestens gesorgt und versichert, dass das Ende <lb/>schmerzlos war.<note type="commentary" resp="#E0300826"><persName key="E0300017">Busoni</persName> berichtete im <ref target="#D0102113">vorangegangenen Brief</ref> vom Ableben <persName key="E0300855">von Kapffs</persName> und bedankte sich bei <persName key="E0300819">Oppenheimer</persName>, <q rend="dq-du" source="#D0102113" n="3">dass sie so gütig für ihn gesorgt</q> hatte. Gegenüber <persName key="E0300819">Oppenheimer</persName> erwähnte <persName key="E0300017">Busoni</persName> <persName key="E0300855">von Kapff</persName> erstmals in <ref target="#D0102108">seinem Brief vom <date when-iso="1916-12-21">21. Dezember 1916</date></ref>, einen 63 jährigen Freund aus seiner Jugend, der <q rend="dq-du" source="#D0102108" n="3">völlig einsam und gelähmt</q> wie <persName key="E0300819">Oppenheimer</persName> in <placeName key="E0500002">Wien</placeName> wohnte, für den er sie um eine <q rend="dq-du" source="#D0102108" n="3">kleine Liebesspende</q> bat. Dieser Bitte scheint <persName key="E0300819">Oppenheimer</persName> nachgekommen sein, wie <ref target="#D0102110">Busonis Brief vom <date when-iso="1917-06-19">19. Juni 1917</date></ref> erschließen lässt. <persName key="E0300819">Oppenheimer</persName> ist dabei aber zumindest zu Beginn anonym geblieben, <persName key="E0300855">von Kapff</persName> wusste lediglich von einer <q rend="dq-du" source="#D0102112" n="1">unbekannten Wohlthäterin</q>.</note></p> <p>Bald geht das Jahr zur Neige und gi<orig>e</orig>bt uns <lb/>damit <del rend="strikethrough">d</del> sein erstes freundliches Geschenk. <lb/>Möge es viel von allem Unglück, das<reg>s</reg> es <lb/>gebracht, mitnehmen und <date when-iso="1919">1919</date> die hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en <lb/>Wünsche erfüllen, die ich für Sie und Ihre <lb/>Lieben hege.</p> <p rend="inline">Innigste Grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e für Sie und <lb/><persName key="E0300059">Frau Gerda</persName>.</p> <closer rend="inline"> <salute rend="inline"> In unveränderlicher Freundschaft <lb/><seg rend="align(center)">Ihre </seg> </salute> <signed rend="inline"> <seg rend="inline align(right)"><persName key="E0300819">Jella Oppenheimer</persName></seg> </signed> </closer> </div>
6Faksimile
6Diplomatische Umschrift
6XML
[Rückseite von Textseite 5]
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Oppenheimer
                                                                
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Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 3456 | olim: Mus.ep. J. Oppenheimer 25 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 5 beschriebene Seiten
Kollation
Briefpapier im Hochformat; Vorder- und Rückseite beschrieben
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Jella Oppenheimer, Brieftext und Foliierung in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Hand Gerda Busonis, die den Namen Oppenheimers mit Bleistift notiert hat
Foliierungen
  • Foliierung durch das Archiv, mit Bleistift oben rechts auf der Vorderseite von Blatt 1.
  • Foliierung durch Jella Oppenheimer, mit schwarzer Tinte oben links auf den Vorderseiten von Blatt 2 und 3.

Zusammenfassung
Oppenheimer begründet Ausbleiben eines Briefes an Busoni; beklagt Lebensumstände der Nachkriegszeit und versucht diese einzuordnen; unterrichtet über Aufenthaltsorte der vergangenen Monate; erwartet Publikation von Busonis Faust; bedauert Busonis finanzielle Schwierigkeiten; berichtet über Tod von Busonis Freund.
Incipit
Die Ereignisse haben mich die Worte nicht mehr finden lassen

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
30. Oktober 2023: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition