Ferruccio Busoni to Frieda Kwast-Hodapp arrow_backarrow_forward

April 25, 1922

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Mus. ep. F. Busoni 665 (Busoni-Nachl. B I)
Mus. Nachl: F. Busoni BI, 774
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An Frieda Kwast-Hodapp,

[Nach einer beglaubigten Abschrift] III. Epistel
betreffend die Chopin Variationen.

Sehr verehrliche Frau,ich habe Ihren guten Brief mit vielem
Vergnügen erhalten: er ist gedacht, gefühlt und geschrieben! -
Jean Paul Friedrich R[ic]hters "Titan" habe ich nicht gelesen.
Aber ich liebe den Autor, und neige mich vor seinem geistreichen
Gedanken Kontrapunkt. – Leider kann ich die Beziehungen meiner
Jugendvariationen zu dem Bilde eines Lago Maggiore nicht erken-
nen. Ich empfinde sie als stark germanisch, (d.i. der Abkunft,
der ich mich in der Vollendung des Kreises stets wieder mehr
nähere, abgewandt) und mehr trocken als romantisch. – Ich beob-
achte überhaupt, dass man in Deutschland trockene Musik als ro-
mantisch ansieht, und romantische als trocken; Beispiele wären
fürs erste: Schumann, fürs zweite: Berlioz. (Auch Beethoven er-
scheint _mir_ romantisch. Aber man hat ihm hier die Gebärde eines
"Tiefsinnigen" angedichtet.

- So sehr ich bedauere, Ihnen widersprechen zu müssen, so
muss ich doch ehrlich sagen, (die Freiheit meiner Meinungs Aüsse-
rung habe ich mir schwer errungen!)
[D]dass mir Beethoven’s C moll-Konzert durch jenes Mozart’s in
den Hintergrund gerückt wurde! Auch dieses Stück [Beethovens
cmoll-Konzert
] muthet mich (gegen seinen Vorgänger) "trocken"
und kurzathmig an, von der vermissten Schönheit und Ku[n]st des
Orchester Satzes zu schweigen.

An Frieda Kwast-Hodapp,

[Nach einer beglaubigten Abschrift] III. Epistel betreffend die Chopin Variationen.

Sehr verehrliche Frau,ich habe Ihren guten Brief mit vielem Vergnügen erhalten: er ist gedacht, gefühlt und geschrieben! - Jean Paul Friedrich R[ic]hters "Titan" habe ich nicht gelesen. Aber ich liebe den Autor, und neige mich vor seinem geistreichen Gedanken Kontrapunkt. – Leider kann ich die Beziehungen meiner Jugendvariationen zu dem Bilde eines Lago Maggiore nicht erken- nen. Ich empfinde sie als stark germanisch, (d.i. der Abkunft, der ich mich in der Vollendung des Kreises stets wieder mehr nähere, abgewandt) und mehr trocken als romantisch. – Ich beob- achte überhaupt, dass man in Deutschland trockene Musik als ro- mantisch ansieht, und romantische als trocken; Beispiele wären fürs erste: Schumann, fürs zweite: Berlioz. (Auch Beethoven er- scheint _mir_ romantisch. Aber man hat ihm hier die Gebärde eines "Tiefsinnigen" angedichtet.

- So sehr ich bedauere, Ihnen widersprechen zu müssen, so muss ich doch ehrlich sagen, (die Freiheit meiner Meinungs Aüsse- rung habe ich mir schwer errungen!) [D]dass mir Beethoven’s C moll-Konzert durch jenes Mozart’s in den Hintergrund gerückt wurde! Auch dieses Stück [Beethovens cmoll-Konzert] mutet mich (gegen seinen Vorgänger) "trocken" und kurzathmig an, von der vermissten Schönheit und Ku[n]st des Orchester Satzes zu schweigen.

An Frieda Kwast-Hodapp, III. Epistel betr. die Chopin-Var.

Aber ..... zu Mozart ist der steilste Weg. Er wahrt seine aristokratische Distanz, wie Rom’s Paläste; trotz aller[s] Anmut der Verhältnisse. -

Meine Umarbeitung des fraglichen Stückes hat ihre zehnte Seite erreicht. Ich bringe sechs Mollvariationen ununterbrochen verkettet, die sich in der Bewegung beschleunigen, und ein einziges Stück, (den ersten Teil) bilden. – Dann folgt (als Inter-Mezzo) die _Fantasie_, (S. 11.) darauf die Fuge, die ich gestalten will. – Es ist eine vollständig abweichende Anlage, aber sie entspricht eher meinen Anforderungen der Form. – Denn, sehen Sie, Einfälle sind Talent, aber erst die Form macht sie zum Kunstwerk.

Dank für Ihre liebe Gesinnung Ihr herzlich ergebener

F. Busoni

25. April 1922
                                                                
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An Frieda Kwast-Hodapp, III. Epistel betr. die Chopin-Var.

Aber ..... zu Mozart ist der steilste Weg. Er wahrt seine
aristokratische Distanz, wie Rom’s Paläste; trotz aller[s] Anmuth
der Verhältnisse. -

Meine Umarbeitung des fraglichen Stückes hat ihre zehnte
Seite erreicht. Ich bringe sechs Mollvariationen ununterbrochen
verkettet, die sich in der Bewegung beschleunigen, und ein ein-
ziges Stück, (den ersten Teil) bilden. – Dann folgt (als Inter-
Mezzo) die _Fantasie_, (S. 11.) darauf die Fuge, die ich gestalten
will. – Es ist eine vollständig abweichende Anlage, aber sie ent-
spricht eher meinen Anforderungen der Form. – Denn, sehen Sie,
Einfälle sind Talent, aber erst die Form macht sie zum Kunstwerk.

Dank für Ihre liebe Gesinnung
Ihr herzlich ergebener

F. Busoni

25. April 1922
                                                                
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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B I, 774 | olim: Mus.ep. F. Busoni 665 |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
2 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Image source
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Summary
Busoni sinniert über das deutsche Verständnis des Romantischen in der Musik; widerspricht Kwast-Hodapp in der Bewertung der c-Moll Klavierkonzerten von ;Beethoven und Mozart; spricht über seine Revisionen an und den Fortschritt seiner Chopin Variationen.
Incipit
Sehr verehrliche Frau,ich habe Ihren guten Brief mit vielem Vergnügen erhalten:

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
July 1, 2025: todo (to be processed (file created by initial script))
Direct context
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