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N.Mus.Nachl. 30, 61
L J Ihr gestriger Besuch war angenehmster
Wirkung. Wie sehr froh bin ich über
Ihr Verständnis, menschlich u. künstlerisch!
Ich freue mich auf unsere Korrespondenz,
wenn wir einmal getrennt sind, durch Raum und
Verhältnisse.
Busoni hatte bereits Mitte Mai 1920 mitgeteilt, Zürich nach seinem nächsten England-Aufenthalt verlassen zu wollen; der endgültige Beschluss, die Leitung einer Meisterklasse für Komposition in Berlin anzunehmen, fiel allerdings erst Ende Juli oder Anfang August 1920 (vgl. die Kommentierung zum Brief vom 16. Mai 1920).
– Ein segensreicher Eindruck war und
ist der (–jämmerliche–) Klavierauszug von Berlioz’
Trojaner. Welche Anregung. Welch’ ein Reichthum!
Beaumont 1987 (311) fasst beide Ausrufe zu einem zusammen („What inspiration!“).
Emmanuel
Busoni hatte den Musikgeschichts-Professor Maurice Emmanuel drei Monate zuvor in Paris kennengelernt (vgl. den Brief vom 23. März 1920).
sagte bei Weitem nicht Alles, das zu sagen
wäre. Er ist der einzige Komponist, (Berlioz) der immer
auf Erfindung hin arbeitet. Jede Seite gibt wieder
Neues und Überraschendes. Ich kenne nicht die Partitur
dieses zweiten Theiles. Die muss eine „Lektion“ sein. –
Den ersten Theil besitze ich: ein dramatisches Poem.
Wie ist das zu erklären, dass die Franzosen so taub ver- bleiben diesem ihrem Manne gegenüber? Es ist zum
Weinen. – Und den, in jedem Sinne “feindlichen”,
Beaumont 1987 (311) übersetzt „feindlich“ mit „alien“ („fremd“).
Wagner
auf das Schild heben? – Eine Lösung fand ich: Berlioz’
Musik ist, bei Allem, keusch. – Seit fünfzig Jahren
ist muss Musik erotisch sein:, ob Tristan, oder Operette.
Wagner’s ist sexuell, unthätig=erotisch, also geil.
Darum werden auch die unmässigen Dehnungen vertragen.
Potenz handelt rasch. Erotik zieht sich lange hinaus.
Seit meinem Briefaustausch mit Bekker […]
at most 2 char: illegible.
bin ich dieses
Themas voll; verzeihen Sie, dass ich es hier ausbreite.
Ich werde, so Gott will, einmal mich ausführlich
darüber aüssern.
Busoni hatte Paul Bekker am 14. Mai eine Offene Erwiderung zu dessen Artikel Bayreuth mit der Bitte um Publikation in der Frankfurter Zeitung geschickt (vgl. Brief vom 14. Mai 1920 an Bekker.) In diesem offenen Brief legt Busoni ausführlich dar, dass sich Wagners Musikdramen nur um Erotik als Selbstzweck drehe. Bekker hatte Busoni vehement – und schließlich erfolgreich – von einer Veröffentlichung abgeraten (vgl. Bekkers Brief vom 23. Mai 1920).
–
Bei Beaumont 1987 (311) ist ab hier der Rest des Briefes ausgelassen.
Bitte, dass ich Sie noch sehe
vor
June 13, 1920Sonntag.
Für Mitte Juni hatte Busoni eine Reise nach London geplant, deren genaues Abreisedatum er jedoch an keiner Stelle nennt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem genannten „Sonntag“ um diesen Abreisetag nach London handelt.
– Lüning können Sie sagen, dass ich
einen Fortschritt verzeichnete, und Etwas von ihm
erwarte, falls er Kultur annimmt.
Unter den mitgebrachten Noten befand sich auch das Streichquartett Nr. 1 von Otto Luening, um dessen Kommentierung Jarnach zuvor gebeten hatte (vgl. seinen Brief vom 2./3. Juni 1920).
– Ich grüsse Sie
freundschaftlich
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L J,
Ihr gestriger Besuch war angenehmster
Wirkung. Wie sehr froh bin ich über
Ihr Verständnis, menschlich und künstlerisch!
Ich freue mich auf unsere Korrespondenz,
wenn wir einmal getrennt sind, durch Raum und
Verhältnisse.
Busoni hatte bereits Mitte Mai 1920 mitgeteilt, Zürich nach seinem nächsten England-Aufenthalt verlassen zu wollen; der endgültige Beschluss, die Leitung einer Meisterklasse für Komposition in Berlin anzunehmen, fiel allerdings erst Ende Juli oder Anfang August 1920 (vgl. die Kommentierung zum Brief vom 16. Mai 1920).
– Ein segensreicher Eindruck war und
ist der (jämmerliche) Klavierauszug von Berlioz’
Trojanern. Welche Anregung. Welch ein Reichtum!
Emmanuel
Busoni hatte den Musikgeschichts-Professor Maurice Emmanuel drei Monate zuvor in Paris kennengelernt (vgl. den Brief vom 23. März 1920).
sagte bei Weitem nicht alles, das zu sagen
wäre. Er ist der einzige Komponist (Berlioz), der immer
auf Erfindung hinarbeitet. Jede Seite gibt wieder
Neues und Überraschendes. Ich kenne nicht die Partitur
dieses zweiten Teiles. Die muss eine „Lektion“ sein.
Den ersten Teil besitze ich: ein dramatisches Poem.
Wie ist das zu erklären, dass die Franzosen so taub verbleiben diesem ihrem Manne gegenüber? Es ist zum
Weinen. – Und den in jedem Sinne „feindlichen“
Wagner
auf das Schild heben? – Eine Lösung fand ich: Berlioz’
Musik ist, bei allem, keusch. – Seit fünfzig Jahren
muss Musik erotisch sein: ob Tristan oder Operette.
Wagners ist sexuell, untätig-erotisch, also geil.
Darum werden auch die unmäßigen Dehnungen vertragen.
Potenz handelt rasch. Erotik zieht sich lange hinaus.
Seit meinem Briefaustausch mit Bekker bin ich dieses
Themas voll; verzeihen Sie, dass ich es hier ausbreite.
Ich werde, so Gott will, einmal mich ausführlich
darüber äußern.
Busoni hatte Paul Bekker am 14. Mai eine Offene Erwiderung zu dessen Artikel Bayreuth mit der Bitte um Publikation in der Frankfurter Zeitung geschickt (vgl. Brief vom 14. Mai 1920 an Bekker.) In diesem offenen Brief legt Busoni ausführlich dar, dass sich Wagners Musikdramen nur um Erotik als Selbstzweck drehe. Bekker hatte Busoni vehement – und schließlich erfolgreich – von einer Veröffentlichung abgeraten (vgl. Bekkers Brief vom 23. Mai 1920).
–
Bitte, dass ich Sie noch sehe
vor
June 13, 1920Sonntag.
Für Mitte Juni hatte Busoni eine Reise nach London geplant, deren genaues Abreisedatum er jedoch an keiner Stelle nennt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem genannten „Sonntag“ um diesen Abreisetag nach London handelt.
– Luening können Sie sagen, dass ich
einen Fortschritt verzeichnete und etwas von ihm
erwarte, falls er Kultur annimmt.
Unter den mitgebrachten Noten befand sich auch das Streichquartett Nr. 1 von Otto Luening, um dessen Kommentierung Jarnach zuvor gebeten hatte (vgl. seinen Brief vom 2./3. Juni 1920).
Ich grüße Sie
freundschaftlich
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<lb/>wenn wir einmal getrennt sind, durch Raum und
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<lb/>Musik ist, bei <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>llem, <hi rend="underline2">keusch</hi>. – Seit fünfzig Jahren
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[Rückseite]
7 Juni 20
Preußischer
Staats- bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
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