Ferruccio Busoni an Ludwig Rubiner arrow_backarrow_forward

Zürich · 11. Juli 1919

Faksimile
Diplomatische Umschrift
Lesefassung
XML
Mus.ep. F. Busoni 808 (Busoni-Nachl. B I)
Mus.Nachl. F. Busoni B I, 1014
[1]
Zürich, 11[…] 1 Zeichen: unleserlich. . Juli 1919

LR nun darf ich Ihnen, mit Ihrem
eigenen Gewissen im Einklang,
zur endgiltigen Fassung des Werkes meine
Glückwünsche darbringen. Idee mag
Eingebung sein, Gesinnung Charakter,
aber Form allein ist die Kunst. Hier
also treffen wir uns – wie ich wusste –
wieder! Ich hoffe den Druck bald zu sehen,
hoffe das Stück auf einem Theaterzettel zu
lesen. Wie viel werden Sie aus den Regie-
Proben ziehen, an Anregung u. neuen
Erfahrungen. Das “Gewicht” eines jeden
Wortes und Satzes, wird Einem da erst bewusst.
Die Aufführung giebt die Perspektive. Es Ich
halte aber – auf dem Theater nicht anders
wie in den übrigen Kunstbezirken – an
der Überzeugung [fest], dass es keine absoluten
dramatischen, noch theatralischen Prinzipien
gibt, sondern dass jede eigene Schöpfung in
sich selbst eigene Gesetze aufstellt. Vgl. in Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst den Abschnitt über Schaffen und Gesetz (S. 21 der Erstausgabe): „Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.“. Es kommt
darauf an, sie in den richtigen Verhältnissen
zu vertheilen. Auch die dramatische Wirkung
ändert u. verschiebt sich fortwährend, nach
den Zeiten und ihren Bedingungen. In
50 Jahren wird man mitleidig lächeln, dass
dreieckige Liebeshandlungen mit Würg und
Stich Ausgang als zu einer wirksamen Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Opern Musik für forderlich empfunden wurden.

Zürich, 11. Juli 1919

LR

nun darf ich Ihnen, mit Ihrem eigenen Gewissen im Einklang, zur endgiltigen Fassung des Werkes meine Glückwünsche darbringen. Idee mag Eingebung sein, Gesinnung Charakter, aber Form allein ist die Kunst. Hier also treffen wir uns – wie ich wusste – wieder! Ich hoffe, den Druck bald zu sehen, hoffe, das Stück auf einem Theaterzettel zu lesen. Wie viel werden Sie aus den Regie-Proben ziehen, an Anregung und neuen Erfahrungen. Das „Gewicht“ eines jeden Wortes und Satzes wird einem da erst bewusst. Die Aufführung gibt die Perspektive. Ich halte aber – auf dem Theater nicht anders wie in den übrigen Kunstbezirken – an der Überzeugung fest, dass es keine absoluten dramatischen noch theatralischen Prinzipien gibt, sondern dass jede eigene Schöpfung in sich selbst eigene Gesetze aufstellt. Vgl. in Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst den Abschnitt über Schaffen und Gesetz (S. 21 der Erstausgabe): „Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.“. Es kommt darauf an, sie in den richtigen Verhältnissen zu verteilen. Auch die dramatische Wirkung ändert und verschiebt sich fortwährend, nach den Zeiten und ihren Bedingungen. In 50 Jahren wird man mitleidig lächeln, dass dreieckige Liebeshandlungen mit Würg- und Stich-Ausgang als zu einer wirksamen Opernmusik für förderlich empfunden wurden.

Wie man bereits beginnt, darüber zu lächeln, dass alle Streitigkeiten von schopenhauerisch schwätzenden Göttern als musikdramatisch gelten konnten. Aber von jeder Geschmacksart erhält sich das vollkommen geratene Exemplar. Denn die Kunst ist so umfassend, dass jede Geschmacksart ein Teil des Ganzen ist und insofern sein Ursprünglich-Richtiges hat. Und kein Einzelner kann dieses Ganze umfassen. Jeder kann, in dem Palaste, nur in einem der 1000 Räume zugleich weilen. Das macht, dass ein Kleinerer ebenso notwendig sein kann wie ein Großer, dass ein Weber etwas zu Tage bringt, das dem ihn überragenden Bach, beispielweise, unzugänglich bleibt. Diese nüchterne Wahrheit hält uns aufrecht; sonst müsste ich – mit anderen – mich, nach einem Mozart, als völlig überflüssig fühlen.

Wie freue ich mich über Ihre schönen Erlebnisse! – Ist es ein Anfang, ist es ein Ende? – Jedenfalls scheint es, nach Ihren Eindrücken, eine Physiognomie zu haben!

Leben Sie so weiter, und denken Sie, wenn Sie still sind, an einen, der recht still geworden und doch nach Bewegung strebt, nämlich

Ihren Sie herzlich grüßenden

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="shelfmark" place="top-left" resp="#archive"> <del rend="strikethrough">Mus.ep. F. Busoni 808 (Busoni-Nachl. <handShift new="#archive_red"/>B I<handShift new="#archive"/>)</del> <add place="below">Mus.Nachl. F. Busoni B I, 1014</add> </note> <note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">[1]</note> <opener> <dateline rend="top-right space-above space-below"> <placeName key="E0500132">Zürich</placeName>, <date when-iso="1919-07-11"><add place="inline">1</add>1<del rend="strikethrough"><gap unit="char" extent="1" reason="illegible"/></del>. Juli 1919</date> </dateline> </opener> <p><seg type="opener" subtype="salute" rend="huge"><abbr>L<persName key="E0300126">R</persName></abbr></seg> nun darf ich Ihnen, mit Ihrem <lb/><seg rend="indent-2">eigenen Gewissen im Einklang,</seg> <lb/>zur endgiltigen Fassung <rs key="E0400316">des Werkes</rs> meine <lb/>Glückwünsche darbringen. Idee mag <lb/>Eingebung sein, Gesinnung Charakter, <lb/>aber <hi rend="underline">Form</hi> allein ist die Kunst. Hier <lb/>also treffen wir uns – wie ich wusste – <lb/>wieder! Ich hoffe<reg>,</reg> den Druck bald zu sehen, <lb/>hoffe<reg>,</reg> das Stück auf einem Theaterzettel zu <lb/>lesen. Wie viel werden Sie aus den Regie- <lb break="no"/>Proben ziehen, an Anregung <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> neuen <lb/>Erfahrungen. Das <soCalled rend="dq-uu">Gewicht</soCalled> eines jeden <lb/>Wortes und Satzes<orig>,</orig> wird <choice><orig>E</orig><reg>e</reg></choice>inem da erst bewusst. <lb/>Die Aufführung gi<orig>e</orig>bt die Perspektive. <del rend="strikethrough">Es</del> Ich <lb/>halte aber – auf dem Theater nicht anders <lb/>wie in den übrigen Kunstbezirken – an <lb/>der Überzeugung <supplied reason="omitted">fest</supplied>, dass es keine <hi rend="underline">absoluten</hi> <lb/>dramatischen<orig>,</orig> noch theatralischen Prinzipien <lb/>gibt, sondern dass jede eigene Schöpfung in <lb/>sich selbst eigene Gesetze aufstellt. <note type="commentary" resp="#E0300378">Vgl. in <persName key="E0300017">Busonis</persName> <title key="E0400043">Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst</title> den <ref target="#D0200001" n="21">Abschnitt über Schaffen und Gesetz (S. 21 der Erstausgabe)</ref>: <q source="#D0200001">Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.</q>.</note> Es kommt <lb/>darauf an, sie in den richtigen Verhältnissen <lb/>zu vert<orig>h</orig>eilen. Auch die dramatische Wirkung <lb/>ändert <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> verschiebt sich fortwährend, nach <lb/>den Zeiten und ihren Bedingungen. In <lb/>50 Jahren wird man mitleidig lächeln, dass <lb/>dreieckige Liebeshandlungen mit Würg<reg>-</reg> und <lb/>Stich<choice><orig> </orig><reg>-</reg></choice>Ausgang als zu einer wirksamen <note type="stamp" place="margin-left" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <lb/>Opern<choice><orig> M</orig><reg>m</reg></choice>usik <add place="above">für</add> f<choice><sic>o</sic><corr>ö</corr></choice>rderlich empfunden wurden. </p> </div>
2Faksimile
2Diplomatische Umschrift
2XML
B I, 1014
[2]

Wie man bereits beginnt darüber zu
lächeln, dass alle Streitigkeiten von
Schopernhauerisch schwätzenden Göttern
als musikdramatisch gelten konnten.
Aber von jedemr Geschmacks[…] 1 Wort: unleserlich. Art überlebt
erhält sich das d vollkommen gerathene Exemplar.
Denn die Kunst ist so umfassend,
dass jede Geschmacks Art ein Theil
des Ganzen ist, und insofern sein ur-
sprünglich=Richtiges hat. Und keiner Einzelner kann dieses
Ganze umfassen. Jeder kann, in dem
Palaste, nur in einem der 1000 Räume
zugleich weilen. Das macht, dass ein
Kleinerer ebenso notwendig sein kann
wie ein Grosser, dass ein Weber Etwas
zu Tage bringt, das dem ihn überragenden
Bach, beispielweise, unzugänglich bleibt.
Diese nüchterne Wahrheit hält uns
aufrecht; sonst müsste ich – mit anderen –
mich, nach einem Mozart, als völlig
überflüssig fühlen. –

Wie freue ich mich über Ihre
schönen Erlebnisse! – Ist Es ein Anfang,
ist es ein Ende? – Jedenfalls scheint
es, nach Ihren Eindrücken, eine Physiognomie
zu haben!

Leben Sie so weiter, und denken
Sie, wenn Sie still sind, an Einen der recht
still geworden u. doch nach Bewegung strebt, Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

nämlich Ihren Sie herzlich grüssenden

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-left">B I, 1014</note> <note type="foliation" place="top-right" rend="space-below" resp="#archive">[2]</note> <p rend="indent-first">Wie man bereits beginnt<reg>,</reg> darüber zu <lb/>lächeln, dass alle Streitigkeiten von <lb/><persName key="E0300167"><choice><orig>S</orig><reg>s</reg></choice>chope<del rend="strikethrough">r</del>nhauerisch</persName> schwätzenden Göttern <lb/>als musikdramatisch gelten konnten. <lb/>Aber von jede<subst><del rend="strikethrough-part">m</del><add place="remainder">r</add></subst> Geschmacks<del rend="strikethrough"><add place="above"><gap extent="1" unit="word" reason="illegible"/></add></del><choice><orig> A</orig><reg>a</reg></choice>rt <subst><del rend="strikethrough">überlebt</del><lb/><add place="margin-left">erhält sich</add></subst> das <del rend="strikethrough">d</del> vollkommen gerat<orig>h</orig>ene Exemplar. <lb/>Denn die Kunst ist so umfassend, <lb/>dass jede Geschmacks<choice><orig> A</orig><reg>a</reg></choice>rt ein T<orig>h</orig>eil <lb/>des Ganzen ist<orig>,</orig> und insofern sein <choice><orig>u</orig><reg>U</reg></choice>r <lb break="no"/><add place="margin-left">sprünglich<pc>=</pc></add>Richtiges hat. Und kein<subst><del rend="strikethrough">er</del><add place="above"> Einzelner</add></subst> kann dieses <lb/>Ganze umfassen. Jeder kann, in dem <lb/>Palaste, nur in einem der 1000 Räume <lb/>zugleich weilen. Das macht, dass ein <lb/>Kleinerer ebenso notwendig sein kann <lb/>wie ein Gro<choice><reg>ß</reg><orig>ss</orig></choice>er, dass ein <persName key="E0300159">Weber</persName> <choice><orig>E</orig><reg>e</reg></choice>twas <lb/>zu Tage bringt, das dem ihn überragenden <lb/><persName key="E0300012">Bach</persName>, beispielweise, unzugänglich bleibt. <lb/>Diese nüchterne Wahrheit hält uns <lb/>aufrecht; sonst müsste ich – mit anderen – <lb/>mich, nach einem <persName key="E0300010">Mozart</persName>, als völlig <lb/>überflüssig fühlen.<orig> –</orig> </p> <p rend="indent-2-first">Wie freue ich mich über Ihre <lb/>schönen Erlebnisse! – Ist <choice><orig>E</orig><reg>e</reg></choice>s ein Anfang, <lb/>ist es ein Ende? – Jedenfalls scheint <lb/>es, nach Ihren Eindrücken, eine Physiognomie <lb/>zu haben!</p> <p rend="indent-2-first">Leben Sie so weiter, und denken <lb/>Sie, wenn Sie still sind, an <choice><orig>E</orig><reg>e</reg></choice>inen<reg>,</reg> der recht <lb/>still geworden <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> doch nach Bewegung strebt, <note type="stamp" place="margin-left" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <lb/>nämlich <seg type="closer" subtype="salute">Ihren Sie herzlich grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>enden</seg></p> <closer> <signed rend="align(right)"><persName key="E0300017">F. Busoni</persName></signed> </closer> </div>
3Faksimile
3Diplomatische Umschrift
3XML
[Rückseite von Textseite 1, vacat]
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="objdesc" resp="#E0300378">[Rückseite von Textseite 1, vacat]</note> </div>
4Faksimile
4Diplomatische Umschrift
4XML
[Rückseite von Textseite 2, vacat]
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="objdesc" resp="#E0300378">[Rückseite von Textseite 2, vacat]</note> </div>

Dokument

doneStatus: zur Freigabe vorgeschlagen XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B I, 1014 | olim: Mus.ep. F. Busoni 808 (Busoni-Nachl. B I) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
2 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Zusammenfassung
Busoni gratuliert zur Fertigstellung von Rubiners Drama Die Gewaltlosen; verweist auf die Bedeutung der Einstudierung („Die Aufführung gibt die Perspektive“), die Zeitabhängigkeit des dramatisch Wirksamen und das „vollkommen geratene Exemplar“ als zeitlosen Teil des unermesslichen Kunst-Ganzen.
Incipit
Nun darf ich Ihnen, mit Ihren eigenen

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
7. Mai 2023: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition