Ferruccio Busoni an Hugo Leichtentritt arrow_backarrow_forward

Zürich · 1. Mai 1916

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Zürich 1916.

Lieber und verehrter Doktor,

erst gestern – heute ist
der erste Mai, mein dritter
grosser Frühlingstag! – er-
hielt ich durch Br. & H.

Ihre beiden Bände. Ich nehme
mir vor, aus dem Motetten Buch
Belehrung zu schöpfen; die Formen-
lehre
mit meinen eigenen Theorieen
zu vergleichen. Ich bin ein Anbeter
der Form, die ich zeitlebens ge-
pflegt haben: im Denken u. im Schaffen.

(Aus meiner Arbeit zum II. Theile
des Wohlt. Klavieres dürften Sie
das neuerdings erkennen.) – Aber
nicht von meinen, sondern von Ihren
Arbeiten
soll heute die Rede sein.
Sie haben einen der schwierigsten
Schritte unternommen, indem
Sie vom abstrakten Theoretiker
zum gestaltenden Musiker übergingen. Leichtentritt hatte am 29.3. von der Beendigung des Librettos für sein Werk Esther berichtet.

Dazu will ich vorerst
Ihnen jedes Gelingen herzlichst
wünschen.

* The * Library * of * Congress *
Zürich, 1916.

Lieber und verehrter Doktor,

erst gestern – heute ist der 1. Mai, mein dritter großer Frühlingstag! – erhielt ich durch Breitkopf & Härtel Ihre beiden Bände. Ich nehme mir vor, aus dem Motettenbuch Belehrung zu schöpfen; die Formenlehre mit meinen eigenen Theorien zu vergleichen. Ich bin ein Anbeter der Form, die ich zeitlebens gepflegt habe: im Denken und im Schaffen.

(Aus meiner Arbeit zum II. Teile des Wohltemperierten Klavieres dürften Sie das neuerdings erkennen.) – Aber nicht von meinen, sondern von Ihren Arbeiten soll heute die Rede sein. Sie haben einen der schwierigsten Schritte unternommen, indem Sie vom abstrakten Theoretiker zum gestaltenden Musiker übergingen. Leichtentritt hatte am 29.3. von der Beendigung des Librettos für sein Werk Esther berichtet.

Dazu will ich vorerst Ihnen jedes Gelingen herzlichst wünschen.

Zum zweiten muss ich Ihnen für ein anderes Werk danken, das sich ausschließlich mit mir selbst beschäftigt und wovon ein Bogen bisher in meine Hände kam. Der Bogen war Busoni am 29.3. von Breitkopf & Härtel als Anlage des Geburtstagsbriefes zugegangen (vgl. Busoni / Breitkopf & Härtel / Hanau 2012, Bd. 2, S. 130). (Darin hatte ich, soweit sie Tatsachen betrafen, einige Randbemerkungen angebracht.)

Auf diese Ihre Arbeit bin ich, als eines anerkannten Musikgeschichtlers, ganz stolz.

Endlich habe ich noch Ihren trefflichen Geburtstagbrief mit besonderem Danke zu erwähnen. Es gelang mir nicht vorher, ihn zu beantworten: Ich habe glücklicherweise so viele Beweise von Schätzung und Anhänglichkeit zum 1. April erhalten, dass die Erwiderung eine beträchtliche Arbeit darstellen wird. Aber gerade dieser April, der nun auch schon verronnen ist!, brachte mir eine Menge zu tun. Nun sind sowohl die Orchester- als auch die Klavierabende beendet, Busoni hatte vier der sechs Abonnementskonzerte sowie die zugehörigen Hauptproben geleitet und außerdem vier Klavierabende absolviert; vgl. die Ankündigungen in der Neuen Zürcher Zeitung: Abonnementskonzerte, Bach-Klavierabend (23.3.1916), Beethoven-Klavierabend (6.4.1916), Chopin-Klavierabend (13.4.1916), Liszt-Klavierabend (27.4.1916). und bald werde ich manches nachzuholen beginnen.

Zunächst jedoch muss ich die zerstreuten zahlreichen Entwürfe zu meiner einaktigen Oper (die ein kurioses Ding wird) zu einer Einheit zusammenfassen, soll nicht das Ganze mir aus den Händen gleiten. – Darauf führe ich wahrscheinlich die Partitur in einem Zuge aus, die – so Gott will – im August fertig stehen soll. Busoni stellte die Komposition tatsächlich Anfang August fertig (siehe den Brief vom 10.8.1916).

Der zurückgelegte Weg erscheint stets als der kürzere, selbst wenn er den größeren und wichtigeren Teil des Ganges umspannt. – Das werden Sie nun auch erfahren, zumal bei Ihrer „Esther“, wovon Frl. Rita Anregendes berichtete.

Dazu erneuere ich meine freundschaftlichen Wünsche, indem ich Sie herzlichst grüße als

Ihr ergebener

Ferruccio Busoni

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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* The * Library * of * Congress *

Zum zweiten muss ich Ihnen
für ein anderes Werk danken,
das sich ausschliesslich mit mir
selbst beschäftigt, u. wovon ein Bogen
bisher in meine Hände kam. Der Bogen war Busoni am 29.3. von Breitkopf & Härtel als Anlage des Geburtstagsbriefes zugegangen (vgl. Busoni / Breitkopf & Härtel / Hanau 2012, Bd. 2, S. 130).
(Darin hatte ich, soweit sie
Thatsachen betrafen, einige Rand-
bemerkungen angebracht.)–

Auf diese Ihre Arbeit
bin ich, als eines anerkannten
Musikgeschichtlers, ganz stolz.

Endlich habe ich noch
Ihren trefflichen Geburtstag-brief
mit besonderem Danke zu erwähnen.
Es gelang mir nicht vorher, ihn
zu beantworten: – ich habe
glücklicherweise so viele Beweise
von Schätzung u. Anhanglichkeit
zum 1. April erhalten, dass die
Erwiederung eine beträchtliche
Arbeit darstellen wird. Aber gerade
dieser April, der nun auch schon
verronnen ist!, brachte mir eine
Menge zu thun. Nun sind sowohl
die Orchester= als auch die Klavier-
Abende beendet, Busoni hatte vier der sechs Abonnementskonzerte sowie die zugehörigen Hauptproben geleitet und außerdem vier Klavierabende absolviert; vgl. die Ankündigungen in der Neuen Zürcher Zeitung: Abonnementskonzerte, Bach-Klavierabend (23.3.1916), Beethoven-Klavierabend (6.4.1916), Chopin-Klavierabend (13.4.1916), Liszt-Klavierabend (27.4.1916). u. bald werde
ich Manches nachzuholen beginnen.

                                                                
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3Diplomatische Umschrift
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* The * Library * of * Congress *

Zunächst jedoch muss ich
die zerstreuten zahlreichen Ent-
würfe zu meiner einaktigen Oper,
(die ein kurioses Ding wird) zu
einer Einheit zusammenfassen,
soll nicht das ganze mir aus den
Händen gleiten. – Darauf führe
ich wahrscheinlich die Partitur
in einem Zuge aus, die – so Gott
will – im August fertig stehen soll. Busoni stellte die Komposition tatsächlich Anfang August fertig (siehe den Brief vom 10.8.1916).

Der zurückgelegte Weg erscheint
stets als der kürzere, selbst wenn
er den größeren u. wichtigeren Theil
des Ganges umspannt. – Das
werden Sie nun auch erfahren,
zumal bei Ihrer “Esther”, wovon
Frl. Rita Anregendes berichtete.

Dazu erneuere ich meine
freundschaftlichen Wünsche indem
ich Sie herzlichst grüsse als

Ihr ergebener

Ferruccio Busoni

                                                                
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Überlieferung
USA | Washington, D.C. | Library of Congress | Ferruccio Busoni Papers Additions, 1866–1924 | ML95 .B94
Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte).

Zusammenfassung
Busoni hat Leichtentritts Bücher Geschichte der Motette und Musikalische Formenlehre erhalten; kündigt an, „die Formenlehre mit meinen eigenen Theorien zu vergleichen“; bezeichnet sich als „Anbeter der Form“; will Arlecchino bis August fertigstellen.
Incipit
erst gestern – heute ist der 1. Mai

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
25. November 2022: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition