Ferruccio Busoni an Hugo Leichtentritt arrow_backarrow_forward

Zürich · 13. Februar 1916

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Zürich den 12 F. 1916.

Mein verehrter Doktor
und Freund
,
Ihren Brief

erhielt ich dankbar, las ich mit Ver-
gnügen u. Interesse. Ich werde, wenn
das Schicksal es will, mich einmal
zu diesen physikalischen Werkstätten
begeben, die Sie beschreiben, u. studieren.
Von dem Kampfe zwischen dem weisen
Mann
u. dem Schmied seines Glückes
sind wir hier unterrichtet. Von der
Absetzung eines Kunstkritikers verspreche
ich mir niemals viel, weil ein Kunst-
kritiker ihn ersetzt. Auch glaube ich be -
merkt zu haben, dass es niemals kunst-
kritische Motive sind, die solche kritische
Momente veranlassen; eher persönliche,
sittliche, moralische, u. was weiss ich, –
derart, dass die Strafe nicht in Namen
des wirklichen Vergehens erfolgt.

Rita sprach viel von Ihrem
Textbuche
und manchen glücklichen
Wendungen in den Bühnen Vorgängen,
die es behandelt. Das ist ein grosser
Vorwurf, möge es zu einem ebensolchen
Wurfe sich gestalten!

* The * Library * of * Congress *
Zürich, den 12. Februar 1916.

Mein verehrter Doktor und Freund,

Ihren Brief erhielt ich dankbar, las ich mit Vergnügen und Interesse. Ich werde, wenn das Schicksal es will, mich einmal zu diesen physikalischen Werkstätten begeben, die Sie beschreiben, und studieren. Von dem Kampfe zwischen dem weisen Mann und dem Schmied seines Glückes sind wir hier unterrichtet. Von der Absetzung eines Kunstkritikers verspreche ich mir niemals viel, weil ein Kunstkritiker ihn ersetzt. Auch glaube ich be merkt zu haben, dass es niemals kunstkritische Motive sind, die solche kritische Momente veranlassen; eher persönliche, sittliche, moralische, und was weiß ich, – derart, dass die Strafe nicht in Namen des wirklichen Vergehens erfolgt.

Rita sprach viel von Ihrem Textbuche und manchen glücklichen Wendungen in den Bühnenvorgängen, die es behandelt. Das ist ein großer Vorwurf, möge es zu einem ebensolchen Wurfe sich gestalten!

Im letzt erfolgten hiesigen Symphoniekonzert, das R. Strauss’ neuestes Werk brachte, Am 7. und 8. Februar fanden die Zürcher Erstaufführungen von StraussAlpensinfonie statt; vgl. den Konzertbericht der Neuen Zürcher Zeitung (10.2.1916, Erstes Abendblatt). gab es auch den Walkürenritt, den ich über zehn Jahre nicht gehört hatte. Ich war betroffen zu erkennen, dass dieses Stück eine verrohte Nachahmung von Liszts Mazeppa ist, und tragisch berührt von dem Schicksal eines Mannes, der in Wirklichkeit stets vorausging und in der Vorstellung hintenan gestellt wurde.

In der Tat ist die Verwandlung Richard Wagners seit seinem Verkehr mit Liszt augenfällig. Sachen wie Waldweben und Feuerzauber sind im Grunde Übertragungen von Liszt’schen Klavieretüden. – Eine boshafte Monographie könnte betitelt werden: vom „Vampyr“ zum Vampir.

Rita, die leider bald heimfährt, wird Ihnen mehreres erzählen. Für Ihre guten Absichten in Betreff meines kleinen Buches für Breitkopf danke ich Ihnen wieder.

Mit den freundlichsten Grüßen, Ihr herzlich ergebener

F. Busoni

Zürich, 13.II.16.
                                                                
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Im letzt erfolgten hiesigen
Symphonie Konzert, das R.

Strauss’ neuestes Werk brachte, Am 7. und 8. Februar fanden die Zürcher Erstaufführungen von StraussAlpensinfonie statt; vgl. den Konzertbericht der Neuen Zürcher Zeitung (10.2.1916, Erstes Abendblatt). gab
es auch den Walküren Ritt, den ich
über 10 Jahre nicht gehört hatte.
Ich war betroffen zu erkennen, dass
dieses Stück eine verrohte Nach-
ahmung von Liszt’s Mazeppa ist,
u. tragisch berührt von dem Schicksal
eines Mannes, der in Wirklichkeit
stets vorausging u. in der Sch Vor-
stellung hinten an gestellt wurde.

In der That ist die Verwandlung
R. W.s seit seinem Verkehr mit Liszt
augenfällig. Sachen, wie Waldweben
u. Feuerzauber sind im Grunde
Übertragungen von Liszt’schen Klavier-
Etüden. – Eine boshafte Monographie
W.s könnte betitelt werden: vom
„Vampyr“ zum Vampyr.

Rita, die leider bald heim-
fährt, wird Ihnen Mehreres erzählen.
Für Ihre guten Absichten, in
Betreff meines kleinen Buches
für Breitkopf danke ich Ihnen
wieder.

Mit den freundlichsten Grüssen
Ihr herzlich ergebener

F. Busoni

Zürich 13.II.16.
                                                                
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offen.
Zürich 3
13.II.16.-4
Bahnhof
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Überlieferung
USA | Washington, D.C. | Library of Congress | Ferruccio Busoni Papers Additions, 1866–1924 | ML95 .B94
Zustand
Brief und Umschlag sind gut erhalten.
Umfang
2 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte).
  • Poststempel (schwarze Tinte).

Zusammenfassung
Busoni merkt das Psychologische Institut der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität für einen späteren Besuch vor; nimmt den „Krieg der Kritiker“ (Weißmann/Schmidt) zum Anlass genereller Skepsis gegenüber der Kunstkritik; erkennt in Passagen Wagners „im Grunde Übertragungen von Liszt’schen Klavieretüden“.
Incipit
Ihren Brief erhielt ich dankbar, las ich

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
25. November 2022: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition