Ferruccio Busoni an Hans Huber arrow_backarrow_forward

Zürich · 22. April 1919

Faksimile
Diplomatische Umschrift
Lesefassung
XML
22 Aug. 191976.

Hochverehrter Freund,

schön, dass Sie am OsterSonntag
meiner gedachten: es ist mein
eigentlicher Geburtstag, da 1866
der 1. April ^auf Domenica di Pasqua
fiel. Ein höchst beweglicher Geburtstag,
der mich diesjahr um ganze 3 Wochen
verjüngte! (Trotzdem es mich sehr
direkt betrifft, habe ich die Kalender-
berechnung – die den Tag ^scheinbar ganz unre-
gelmässig verschiebt, – nie ganzvöllig geerfasst.)

Wolfrum ist im Engadin. Er
schickte mir die Korrektur eines
Vorwortes zu Liszt’s KirchenWerken;
u. da dieses ausführlich vbespricht
was Sie zuletzt um Liszt beschäftigte,
so habe ich Wolfrum aufgefordert,
das Schriftstück an Sie (nach Vitznau)
zu senden. – Es wird Sie sicherlich
interessieren, obwohl wenn auch nicht
überraschen.

Ob Schoeck’s Oper Sie überra-
schen würde, kann ich nicht
ermessen, da ich nicht genau
weiss wie Sie seine Fähigkeiten
einschätzen.

76.

Hochverehrter Freund,

schön, dass Sie am Ostersonntag meiner gedachten: es ist mein eigentlicher Geburtstag, da 1866 der 1. April auf Domenica di Pasqua fiel. Ein höchst beweglicher Geburtstag, der mich diesjahr um ganze drei Wochen verjüngte! (Trotzdem es mich sehr direkt betrifft, habe ich die Kalenderberechnung – die den Tag scheinbar ganz unregelmässig verschiebt – nie völlig erfasst.)

Wolfrum ist im Engadin. Er schickte mir die Korrektur eines Vorwortes zu Liszts Kirchenwerken; und da dieses ausführlich bespricht, was Sie zuletzt um Liszt beschäftigte, so habe ich Wolfrum aufgefordert, das Schriftstück an Sie (nach Vitznau) zu senden. – Es wird Sie sicherlich interessieren, wenn auch nicht überraschen.

Ob Schoecks Oper Sie überraschen würde, kann ich nicht ermessen, da ich nicht genau weiß, wie Sie seine Fähigkeiten einschätzen.

„Ein ehrlicher und braver Schweizerbub’“, wie Sie ihn nennen, ist noch nicht alles, um ein Werk auf die Beine zu stellen, das in seinen Aspirationen ‚Don Quixote‘ und ‚Figaro‘ vereinen sollte und demnach und überdies nicht am Züricher See sich abspielt. – Ich glaube einen Fortschritt zu hören, und es sind hübsche Einfälle und wohlgetroffene Töne darin. Es sind sogar Ansätze zu Theatralik vorhanden, und – ich wiederhole – es hört sich meist angenehm an und gefällt. – Weit lieber als Klose ist es mir; aber gemeinsam haben die Beiden, dass sie retrospektiv sind. Es ist aber sympathischer, Lortzing zu verjüngen, als Nibelungenkohl aufzuwärmen. – Wenn Schoeck die nächsten zehn Jahre sehr streng mit sich selber vorginge, dann würde er ein liebenswerter, sogar ein ernster Meister. Ich wünsche es ihm, da ich ebenfalls ihn herzlich gern habe. Meine Kritik (ich gab ihm das Sujet ein) habe ich ihm offen vorgetragen: Er hörte sie gerne an. Sein Librettist, ein Berner Apotheker, hat dem Komponisten oft den Weg verstellt. Schoeck war nicht erfahren genug, um dieses vorher zu überschauen. Ich werde mir das Stück am 25. April 1919Freitag zum zweiten Male anhören. – Schoeck hat Vertrag mit Br. & H. und ist im ganzen in einer günstigen Situation. Dieser „Aladdin“-Rolle ist er etwas bewusst und gibt sich vielleicht ihr ein wenig hin. Hätte er Oehlenschläger’s „Aladdin“ gelesen, so wüßte er, dass diesem „Glückskind“ mit der Kindheit auch das Glück ferne rückt, dass er durch viele Prüfungen schreiten muss, wogegen ihm „die Wunderlampe“ immer weniger hilft; und dass er endlich – zu ernster Männlichkeit durch Leiden gereift – der Wunderlampe entsagt, der er nicht mehr bedarf. Das wäre eine Oper!

Ihr herzlich und verehrungsvoll ergebener

F. Busoni

22. A. 1919
.
II
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="dating" resp="#archive" place="right" xml:id="arch_date">22 Aug. 1919</note> <note type="numbering" place="top-right" resp="#archive">76.</note> <opener> <salute>Hochverehrter Freund,</salute> </opener> <p>schön, dass Sie am Oster<choice><orig>S</orig><reg>s</reg></choice>onntag <lb/>meiner gedachten: es ist mein <lb/>eigentlicher Geburtstag, da <date when-iso="1866">1866</date> <lb/>der 1. April <metamark function="insertion" target="#add_auf">^</metamark><add place="below" xml:id="add_auf">auf</add> <foreign xml:id="it">Domenica di Pasqua</foreign> <lb/>fiel. Ein höchst beweglicher Geburtstag, <lb/>der mich diesjahr um ganze <choice><orig>3</orig><reg>drei</reg></choice> Wochen <lb/>verjüngte! (Trotzdem es mich sehr <lb/>direkt betrifft, habe ich die Kalender <lb break="no"/>berechnung – die den Tag <metamark function="insertion" target="#add_scheinbar">^</metamark><add place="below" xml:id="add_scheinbar">scheinbar</add> ganz unre <lb break="no"/>gelmässig verschiebt<orig>,</orig> – nie <subst><del rend="strikethrough">ganz</del><add place="above">völlig</add></subst> <subst><del rend="overwritten">ge</del><add place="across">er</add></subst>fasst.)</p> <p rend="indent-first"><persName key="E0300181">Wolfrum</persName> ist im <placeName>Engadin</placeName>. Er <lb/>schickte mir die Korrektur eines <lb/>Vorwortes zu <persName key="E0300013">Liszt<orig>’</orig>s</persName> Kirchen<choice><orig>W</orig><reg>w</reg></choice>erken; <lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> da dieses ausführlich <subst><del rend="overwritten">v</del><add place="across">b</add></subst>espricht<reg>,</reg> <lb/>was Sie zuletzt um <persName key="E0300013">Liszt</persName> beschäftigte, <lb/><add place="margin-left">so</add> habe ich <persName key="E0300181">Wolfrum</persName> aufgefordert, <lb/>das Schriftstück an Sie (nach <placeName key="E0500200">Vitznau</placeName>) <lb/>zu senden. – Es wird Sie sicherlich <lb/>interessieren, <del rend="strikethrough">obwohl</del> wenn auch nicht <lb/>überraschen.</p> <p rend="indent-first">Ob <persName key="E0300141">Schoeck</persName><orig>’</orig>s <rs key="E0400217">Oper</rs> Sie überra <lb break="no"/>schen würde, kann ich nicht <lb/>ermessen, da ich nicht genau <lb/>wei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice><reg>,</reg> wie Sie seine Fähigkeiten <lb/>einschätzen.</p> </div>
2Faksimile
2Diplomatische Umschrift
2XML
(2)

“Ein ehrlicher und braver Schweizer-
bub’”
wie Sie ihn nennen,
ist noch nicht Alles um ein
Werk
auf die Beine zu stellen,
das in seinen Aspirationen
‘Don Quixote’ und ‘Figaro’ vereinen
sollte, und demnach und überdies
nicht am Züricher See sich
abspielt. – Ich glaube einen
Fortschritt zu hören, und es
sind hübsche Einfälle und wohl-
getroffene Töne darin. Es sind
sogar Ansätze zu Theatralik vor-
handen und – ich wiederhole –
es hört sich meist angenehm an
u. gefällt. – Weit lieber als Klose
ist es mir; aber gemeinsam haben
die Beiden, dass sie retrospektiv sind.
Es ist aber sympathischer, Lortzing
zu verjüngen, als Nibelungenkohl
aufzuwärmen. – Wenn Schoeck
die nächsten 10 Jahre sehr streng mit
sich selber vorginge, dann würde er
ein liebenswerther, sogar ein
ernster Meister. Ich wünsche es ihm,
da ich ebenfalls ihn herzlich gern habe.

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">(2)</note> <p type="pre-split"><q rend="dq-uu">Ein ehrlicher und braver <placeName key="E0500092">Schweizer</placeName> <lb break="no"/>bub’</q><reg>,</reg> wie Sie ihn nennen, <lb/>ist noch nicht <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>lles<reg>,</reg> um <rs key="E0400217">ein <lb/>Werk</rs> auf die Beine zu stellen, <lb/>das in seinen Aspirationen <lb/><title rend="sq-uu">Don Quixote</title> und <title rend="sq-uu">Figaro</title> vereinen <lb/>sollte<orig>,</orig> und demnach und überdies <lb/>nicht am <placeName key="E0500305"><placeName key="E0500132">Züricher</placeName> See</placeName> sich <lb/>abspielt. – Ich glaube einen <lb/>Fortschritt zu hören, und es <lb/>sind hübsche Einfälle und wohl <lb break="no"/>getroffene Töne darin. Es sind <lb/>sogar Ansätze zu Theatralik vor <lb break="no"/>handen<reg>,</reg> und – ich wiederhole – <lb/>es hört sich meist angenehm an <lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> gefällt. – Weit lieber als <persName key="E0300429">Klose</persName> <lb/>ist es mir; aber gemeinsam haben <lb/>die Beiden, dass sie retrospektiv sind. <lb/>Es ist aber sympathischer, <persName key="E0300160">Lortzing</persName> <lb/>zu verjüngen, als Nibelungenkohl <lb/>aufzuwärmen. – Wenn <persName key="E0300141">Schoeck</persName> <lb/>die nächsten <choice><orig>10</orig><reg>zehn</reg></choice> Jahre sehr streng mit <lb/>sich selber vorginge, dann würde er <lb/>ein liebenswert<orig>h</orig>er, sogar ein <lb/>ernster Meister. Ich wünsche es ihm, <lb/>da ich ebenfalls ihn herzlich gern habe. </p></div>
3Faksimile
3Diplomatische Umschrift
3XML

(3)
Meine Kritik (ich gab ihm das
Sujet ein) habe ich ihm offen
vorgetragen: er hörte sie gerne
an. Sein Librettist, ein Berner
Apotheker, hat dem Komponisten
oft den Weg verstellt. Schoeck
war nicht erfahren genug, um
diaeses vorher zu überschauen.
Ich werde mir das Stück am 25. April 1919Freitag
zum 2. Male anhören. – Schoeck
hat Vertrag mit Br. & H., und
ist im ganzen in einer günstigen
Situation. Dieser „Aladdin“-Rolle
ist er etwas bewusst und gibt
sich vielleicht ihr ein wenig hin.
Hätte er Oehlenschläger’s „Aladdin“
gelesen, so wüsste er, dass diesem
„Glückskind“ mit der Kindheit auch
das Glück ferne rückt, dass er
durch viele Prüfungen schreiten muss,
wozugegen ihm “die Wunderlampe” immer
weniger hilft; und dass er endlich
zu ernster Männlichkeit durch Leiden
gereift – der Wunderlampe entsagt,
die der er nicht mehr nöthig hat bedarf.
Das wäre eine Oper!

Ihr herzlich u. verehrungsvoll ergebener

F. Busoni

22. A. 1919
.
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">(3)</note> <lb/>Meine Kritik (<hi rend="underline">ich</hi> gab ihm das <lb/>Sujet ein) habe ich ihm offen <lb/>vorgetragen: <choice><orig>e</orig><reg>E</reg></choice>r hörte sie gerne <lb/>an. <rs>Sein Librettist</rs>, ein <placeName key="E0500186">Berner</placeName> <lb/>Apotheker, hat dem Komponisten <lb/>oft den Weg verstellt. <persName key="E0300141">Schoeck</persName> <lb/>war nicht erfahren genug, um <lb/>d<subst><add place="inline">i</add><del rend="overwritten">a</del><add place="across">e</add></subst>s<add place="inline">es</add> vorher zu überschauen. <lb/>Ich werde mir <rs>das Stück</rs> am <date when-iso="1919-04-25">Freitag</date> <lb/>zum <choice><orig>2.</orig><reg>zweiten</reg></choice> Male anhören. – <persName key="E0300141">Schoeck</persName> <lb/>hat Vertrag mit <orgName key="E0600002">Br. &amp; H.</orgName><orig>,</orig> und <lb/>ist im ganzen in einer günstigen <lb/>Situation. Dieser <soCalled rend="dq-du">Aladdin</soCalled>-Rolle <lb/>ist er etwas bewusst und gibt <lb/>sich vielleicht ihr ein wenig hin. <lb/>Hätte er <persName key="E0300479">Oehlenschläger’s</persName> <title key="E0400049" rend="dq-du">Aladdin</title> <lb/>gelesen, so wü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>te er, dass diesem <lb/><soCalled rend="dq-du">Glückskind</soCalled> mit der Kindheit auch <lb/>das Glück ferne rückt, dass er <lb/>durch viele Prüfungen schreiten muss, <lb/>wo<subst><del rend="overwritten">zu</del><add place="across">ge</add></subst>gen ihm <soCalled rend="dq-uu">die Wunderlampe</soCalled> immer <lb/>weniger hilft; und dass er endlich <lb/><add place="margin-left">–</add> zu ernster Männlichkeit durch Leiden <lb/>gereift – der Wunderlampe entsagt, <lb/><del rend="strikethrough">die</del> der <add place="above">er</add> nicht mehr <del rend="strikethrough">nöthig hat</del> bedarf. <lb/>Das wäre eine Oper!</p> <closer> <salute rend="indent">Ihr herzlich <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> verehrungsvoll <seg rend="align(center)">ergebener</seg></salute> <signed rend="align(right)"><persName key="E0300017">F. Busoni</persName></signed> <dateline rend="bottom-left"><date when-iso="1919-04-22">22. A. 1919</date></dateline>. </closer> </div>
4Faksimile
4Diplomatische Umschrift
4XML
[Rückseite von Textseite 1, vacat]
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="objdesc" resp="#E0300314">[Rückseite von Textseite 1, vacat]</note> </div>
5Faksimile
5Diplomatische Umschrift
5XML
[Rückseite von Textseite 2, vacat]
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="objdesc" resp="#E0300314">[Rückseite von Textseite 2, vacat]</note> </div>
6Faksimile
6Diplomatische Umschrift
6XML
II
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="numbering" resp="#unknown_hand" rend="large">I</note> <note type="numbering" resp="#unknown_hand" rend="large">I</note> </div>

Dokument

warningStatus: in Bearbeitung XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Schweiz | Basel | Universitätsbibliothek | NL 30 : 22:A-H:16
Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift Nummerierung und Foliierung vorgenommen und das Datum auf die erste Seite übertragen hat.
  • Unbekannte Hand, die mit Blaustift eine Nummerierung auf der Rückseite von Blatt 3 notiert hat.

Incipit
schön, dass Sie am Ostersonntag meiner gedachten

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
unter Mitarbeit von
Stand
24. August 2017: in Bearbeitung (in der Erfassungs-/Codierungsphase)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Refardt 1939, S. 44 f. Beaumont 1987, S. 286