Ferruccio Busoni an Jella Oppenheimer arrow_backarrow_forward

5. März 1924

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Diplomatische Umschrift
Lesefassung
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Mus. ep. F. Busoni 760 (Busoni Nachl. BI)
Mus. Nachl. F. Busoni B I, 907
[1]

Liebe Frau Jella,

verehrte Freundin,


beim aufwachen fand ich heute
Ihren Brief vor – und draußen
war Sonnenschein. Beides ent-
behrte ich seidt langer Zeit
und ich begrüsste Beides freudig
und dankbar. Wir hatten einen
hartnäckigen Winter, und seit
zwei Monaten durfte ich
wieder nicht den Kopf aus
dem Fenster stecken. Meine
Sehnsucht geht auch nach
Italien; ich will Alles versuchen,
es bald wieder zu sehen. Ihr
Plan waere allerdings der
vorgezeichnete Weg: hoffen
wir, dass ich dem gewachsen
sei. Im Brief vom 02.03.1924 berichtet Oppenheimer von ihren Plänen, Rom Ende März zu bereisen. Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Liebe Frau Jella,

verehrte Freundin,

beim aufwachen fand ich heute Ihren Brief vor – und draußen war Sonnenschein. Beides ent-behrte ich seit langer Zeit und ich begrüßte beides freudig und dankbar. Wir hatten einen hartnäckigen Winter und seit zwei Monaten durfte ich wieder nicht den Kopf aus dem Fenster stecken. Meine Sehnsucht geht auch nach Italien; ich will alles versuchen, es bald wieder zu sehen. Ihr Plan wäre allerdings der vorgezeichnete Weg: hoffen wir, dass ich dem gewachsen sei. Im Brief vom 02.03.1924 berichtet Oppenheimer von ihren Plänen, Rom Ende März zu bereisen.

Es ist mir nicht lieb, dass Sie „Ulrike“ gelesen haben. Im Brief vom 02.03.1924 berichtet Oppenheimer, sich durch das Werk „durchgewunden“ zu haben. Es gibt nichts Jämmerlicheres, als das Zurückschauen: selbst in die angenehme Vergan- genheit, geschweige denn in die peinliche und hässliche! Wassermann ist auf seine „Objektivität“ stolz: ihm ist es gleich, was er erzählt, wenn er nur „erzählen“ kann. Es ist in der Kunst ein richtiges Prinzip, an den Ereignissen die man berichtet (oben darstellt) unbeteiligt zu bleiben; doch ist es dabei eine koordinierte Bedingung, dass der Leser oder Zuschauer auch nur „empfange“ ohne zu „erleben“.

Doch wenn eine Jella mit einer Ulrike – selbst in Fiktion, - zusammentrifft, dann gewinnt das Erlebnis über die Darstellung ein Über-gewicht: das künstlerische Genuss-moment muss zurücktreten, um dem schmerzhaften Mitgefühl zu weichen.

Ich bitte um den mir noch unbekannten Dr. Max Mell, den Sie mir gütig senden wollen. Im Akzeptieren von Büchern bin ich ohne Scham; ich könnte darum betteln, ge-legentlich auch welche stehlen.

Gewiss, müsseen wir uns „sehen“: Sollte im Herbst mein Doktor Faust in Dresden zu Darstellung kommen, so rechnete ich nicht wenig auf Ihre Anwesenheit!

Vorläufig ist noch ein Rest des Werkes „im Geiste seines Schöpfers“, vorausgesetzt, dass Geist bei diesem sich vorfinde. Doktor Faust bleibt unvollendet, da Busoni am 27.07.1924 verstirbt. Das Werk wird von seinem Schüler Philipp Jarnach posthum vervollständigt und am 21.05.1925 in Dresden uraufgeführt. Pillen und Tropfen und Massage richten in diesem Falle nicht das geringste aus; ebenso wenig wie Bäder und Sport. Leonardo (sagte mir einmal D’Annunzio) wäre ein Gerippe, das anstatt des Kopfes eine Fackel trüge. Ich meine, (anders gedeutet, als D’Annunzio wollte) dass selbst ein todtes Leib, oben noch leuchten kann.

Einen schönen Frühling

auf der Erde und im Gemüte

(im Herzen ist es ja bei Ihnen

ständig) wünscht Ihnen

wärmstens Ihr Sie verehrender

Ferruccio B

5 März 1924
                                                                
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BI, 907
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Es ist mir nicht lieb,
dass Sie „Ulrike“ gelesen
haben. Im Brief vom 02.03.1924 berichtet Oppenheimer, sich durch das Werk „durchgewunden“ zu haben. Es gibt nichts
Jämmerlicheres, als das
Zurückschauen: selbst
in die angenehme Vergan-
genheit, geschweige denn
in die peinliche u. hässliche!
Wassermann ist auf
seine “objektivitaet” stolz:
ihm ist es gleich, was er
erzählt, wenn er nur “erzählen”
kann. Es ist in der Kunst
ein richtiges Prinzip, an den
Ereignissen die man berichtet
(oben darstellt) unbetheiligt
zu bleiben; doch ist es dabei
eine Koordinierte Bedingung,
dass der Leser oder Zuschauer
auch nur “empfange” ohne
zu “erleben”. Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

                                                                
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Doch wenn eine Jella
mit einer Ulrike – selbst in
Fiktion, - zusammentrifft,
dann gewinnt das Erlebnis
über die Darstellung i dasein Über-
gewicht: deras kunstlerische Genuss-
Moment muss zurücktreten,
um dem schmerzhaften
Mitgefühlt zu weichen.

Ich bitte um den mir
noch unbekannten Dr. Max Maell,
den Sie mir gütig senden wollen.
Im Akzeptieren von Büchern
bin ich ohne Scham; ich
Könnte darum betteln, ge-
legentlich auch welche stehlen.

Gewiss, müsseen wir uns
“sehen”: Sollte im Herbst
mein Doktor Faust in Dresden
zu Darstellung Kommen, so
rechnete ich nicht wenig auf Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Ihre Anwesenheit!

                                                                
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Vorläufig ist noch ein Rest
des Werkes „im geiste seines Schöpfers“,
vorausgesetzt dass Geist bei ddiesem
sich vorfinde. Doktor Faust bleibt unvollendet, da Busoni am 27.07.1924 verstirbt. Das Werk wird von seinem Schüler Philipp Jarnach posthum vervollständigt und am 21.05.1925 in Dresden uraufgeführt. Pillen u. Tropfen und
Massage richten in diesem Falle
nicht das geringste aus;
ebenso wenig wie Massagen Bäder
und Sport. Leonardo (sagte
mir einmal „“D’Annunzio)
waere ein Gerippe, das anstatt
des Kopfes eine Fackel trüge.
Ich meine (anders gedeutet, als
D’Annunzio wollte) dass selbst
ein todtes Leib, oben noch
leuchten kann.~

Einen schönen Frühling

auf der Erde und im Gemüthe

(im Herzen ist es ja bei Ihnen

ständig) wünscht Ihnen

waermstens Ihr Sie verehrender

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Ferruccio B

5 März 1924
                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B I, 907+907a+907b | olim: Mus.ep. F. Busoni 760+760a.b |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
4 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12345678

Zusammenfassung
Busoni bringt seinen Wunsch nach Italien reisen zu wollen zum Ausdruck; bittet um Zusendung der Werke von Max Mell; hofft auf ein Wiedersehen mit Oppenheimer bei der Aufführung seines noch unvollendeten Werks Doktor Faust in Dresden.

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
21. Januar 2023: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Theurich 1990, S. 375 f.